In den schäbigen, alten Mantel gehüllt, den er immer trug und in dem er auch schlief, denn Bett und Decke hatte er nie benutzt, verließ Jermolow in einem Mietwagen den Kaukasus, den Schauplatz seines größten Ruhms. Niemanden an höchster Stelle kümmerte das, man hatte ihn abgeschrieben, er existierte nicht mehr. Nicht einmal ein Trupp Kosaken gab ihm das Geleit. Seine einfachen Soldaten aber, die ihn wie ihren Vater liebten, waren über die schäbige Behandlung ihres Generals empört. Es fehlte nicht viel, und sie hätten gemeutert. Im Stich gelassen, verloren wie eine Herde Lämmer ohne Hirten, sahen sie ihn abfahren, viele mit Tränen in den Augen.
Jermolow selbst nahm seinen Sturz mit unerschütterlicher Ruhe hin. Die gewaltigen, firnbedeckten Berge des Kaukasus schrumpften immer mehr zur bedeutungslosen Hügelkette zusammen, je weiter ihn die Kutsche nach Norden brachte, der Versenkung, dem Nichts entgegen. Vergessen als Verbannter lebte er zunächst in der Provinzstadt Orel, sich vor seinen Feinden zu rechtfertigen, fand er nicht einmal der Mühe wert. Er vertraute auf die Zeit, die seine Leistungen auf dem kaukasischen Kriegsschauplatz anerkennen und damit seinen Namen wieder zu einem helleren Licht strahlen lassen werde. Er sollte recht behalten.
Auf seinem Weg von Aul zu Aul stieg Kasi Mullah eines Tages auch in die düstere Gebirgslandschaft von Gimri hinauf, wo oft schwere Stürme tobten und die Nächte von züngelnden Flammen erhellt wurden. In solchen Stunden der Beklemmung glaubte das Volk den brausenden Flügelschlag des Simurg zu hören, des weiß gefiederten Riesenvogels Salomons, der mit dem einen Auge in die Vergangenheit blickte, mit dem anderen aber in die Zukunft, und der vom Kafdagh zu den Gipfeln des Gimri schwebte, um dort seine schaurigen Gelage abzuhalten.
Diesmal galt Kasi Mullahs Besuch weniger den Dorfbewohnern, die auch ohne seine Ermahnungen und Aufrufe zum Kampf gegen die Russen bereit waren, vielmehr wollte er seinen Freund Schamil, mit dem er in Jaragl studiert hatte, für den heiligen Krieg gewinnen.
„Warum verkriechst du dich schon seit Jahren in den Bergen?“, fragte Kasi Mullah ihn ungehalten. „Ist es wahr, was man sich von dir erzählt?“
„Was erzählt man sich denn?“
„Dass ein Mädchen dir den Kopf verdreht hat. Sie soll sehr schön sein.“
„Ja, das ist sie, Fatimat ist sogar ungewöhnlich schön. Vielleicht hast du sie schon mal gesehen. Sie ist die Tochter Abdul Asis, des Chirurgen in Untsukul.“
„Den Chirurgen kenne ich gut, wer kennt ihn nicht im Kaukasus. Aber seine Tochter habe ich nie gesehen.“
„Ich werde alles tun, um Fatimat zu meiner Frau zu machen.“
„Dann stimmt es also, was die Leute sagen“, bemerkte Kasi Mullah spöttisch. „Sie hat dir den Verstand geraubt.“
„Ich liebe sie, wenn du das meinst, und zwar mit solcher Leidenschaft, wie ich noch für keine andere Frau empfunden habe“, erklärte Schamil frei heraus. „Aber den Verstand geraubt? Mir? Nein, wenn hier jemand den Verstand verloren hat, dann bist du es.“
„Ich?“
„Ja, weil du jetzt schon zum heiligen Krieg aufrufst. Doch so weit ist es noch nicht, die Zeit ist zu früh.“
„Es ist nie zu früh, die russische Autorität zu untergraben. Wo immer sich eine Gelegenheit dazu bietet, müssen wir zuschlagen.“
„Nein“, widersprach ihm Schamil bestimmt, „zunächst müssen wir den ganzen Kaukasus für den Muridismus gewinnen, erst dann können wir uns mit den Russen und ihrer wohlausgerüsteten Armee auseinandersetzen.“
„Und wie lange sollen wir deiner Ansicht nach noch die Hände in den Schoß legen?“
„Nicht in den Schoß legen. Es gibt noch einige feindlich gesinnte Stämme, die nicht für unsere gemeinsame Sache eintreten. Sie müssen wir besiegen und fest an uns binden, denn Treubrüche könnten uns später einmal zum Verhängnis werden. Mein Rat lautet daher, zunächst mit der Bekehrung, Erziehung und Züchtigung aller Unzuverlässigen fortzufahren, bis wir uns endlich einig sind und stark genug fühlen, es mit den Russen aufzunehmen.“
Missbilligend schüttelte Kasi Mullah den Kopf.
„Schamil, Schamil, was ist nur aus dir geworden! Früher hast du sofort den Dolch gezogen, wenn dir jemand zu nahe trat, und jetzt…“
„Jetzt ist es noch genauso, mein Freund. Nur braucht man manchmal Geduld, wenn man sein Ziel erreichen will.“
„Was also willst du – dich gedulden oder kämpfen?“
„Du kennst doch Mullah Jamul-u’din, meinen geistigen Erzieher von Jugend an.“
Kasi Mullah nickte. „Ein Mann von tiefer Frömmigkeit und reichem Wissen.“
„Dieser Nachfahre des Propheten ist auch heute noch mein Lehrer und Ratgeber hier in Gimri. Seit wir beide unsere Studien in Jaragl beendet haben, setze ich sie hier bei Jamul-u’din fort.“
„Dann steckt also er hinter deiner Haltung?“
„Jamul-u’din lehnt die Gewalttätigkeit ab, ganz gleich, welchem Zweck sie auch dient. Weil er so denkt, hat er mir verboten, an irgendeinem Krieg teilzunehmen.“
„Und du gehorchst wie ein Kind seinem Vater. Jamul-u’din ist ein alter Mann, zu schwach zum Kämpfen, du aber bist jung und stark, ein Draufgänger, der sich schon als Junge bei allen Respekt verschafft hat. Machst du dir jetzt schon die Ansicht eines Greises zu Eigen?“
„Ich bin immer noch derselbe, das darfst du mir glauben. Bald ist die Zeit des Lernens vorbei – und die Zeit des Handelns gekommen.“
„Für mich ist sie schon da! Ich habe keine Lust mehr, noch länger zu warten. Der heilige Krieg muss beginnen!
Nachdenklich blieb Schamil in Gimri, seinem Geburtsort hoch oben in den Bergen zurück. In den Gassen zwischen den flachen Häusern, die terrassenförmig übereinander gebaut waren, oft wie Zellen in den Felsen des Berghangs gehauen, hatte er seine Kindheit und Jugend verbracht. Kurz vor Ende des achtzehnten Jahrhunderts geboren, hatten ihn seine Eltern Ali genannt, später aber, da er kränklich aussah, seinen Namen in Schamil abgeändert. Damit folgten sein Vater Dengau, ein awarischer Adliger, und seine Mutter Bahu-Messadu, ebenfalls edler Herkunft, einer kaukasischen Sitte, die böse Geister von Kindern vertreiben sollte. Denn Geister, gute wie böse, gab es nicht nur in der Welt der Sagen und mythischen Gestalten; Fetzen von Kleidern oder Schleifchen an den dünnen Ästen eines Baumes oder eines geweihten Dornbuschs, einem verkümmerten, skelettähnlichen Gestrüpp an einer Felsklippe, zeigten an, dass die Gläubigen dort zu irgendeinem Mullah oder frommen Fürsprecher gebetet hatten, deren Seele dieser Baum oder Strauch verkörperte.
Die Änderung des Namens half auch diesmal, denn kaum war Ali zu Schamil geworden, als er sich kräftig zu entwickeln begann. Schweigsam und verträumt, dazu von Natur aus launisch und nur schwer zu lenken und zu zügeln, mied der kleine Junge seine einzige Schwester und die meisten Altersgenossen und freundete sich nur mit einem Burschen an, einem Awaren, der einige Jahre älter war als er: Kasi Mullah, der später als erster Imam von Dagestan berühmt wurde.
Von unbändigem Stolz durchdrungen, litt der heranwachsende Schamil nicht nur darunter, dass er noch zu klein und schwach war, bei der Dorfjugend seinen Führungsanspruch geltend zu machen, sondern auch an der Schmach, dass sein Vater ein Trinker war. Mehrfach redete er auf ihn ein, dem Laster zu entsagen und damit Mohammeds Gebot zu folgen – vergebens, der Vater schien dem Alkohol verfallen zu sein. Schließlich unternahm der Sohn einen letzten Versuch:
„Wenn du noch weiter trinkst, dann ersteche ich mich mit meinem eigenen Dolch. Das schwöre ich bei Allah!“
Diese Drohung hatte den gewünschten Erfolg. Der Vater kannte seinen Sohn genau und wusste, der Junge werde bestimmt nicht vor dieser Verzweiflungstat zurückschrecken. Ab sofort rührte Dengau keinen Tropfen mehr an, und Schamil hatte erstmals über mangelnde Selbstzucht und Schwachheit des Fleisches gesiegt – Laster, die er später als Muride und Imam von Dagestan ständig bekämpfte.
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