Seite an Seite stehend, nahmen sie das Ende der Ehrenparade ab, und sie blieben auch die folgende Zeit über beisammen, denn Alexander bestand darauf, dass Schamil ihn bei der Musterung der Kavallerie begleitete.
„Ich lege großen Wert darauf, gerade Sie als anerkannten Pferdekenner und kühnen Reiter bei mir zu haben“, erklärte ihm der Zar. „Und gern würde ich auch Ihre Meinung über die Manöver hören. Wann habe ich schon einmal das Glück, einem so ruhmreichen Soldaten wie Sie, Imam, um Rat fragen zu dürfen.“
Anfangs blieb Schamil noch wortkarg, aber als sich im Laufe des Tages das bittere Gefühl der Niederlage immer mehr abschwächte, lebte er auf und genoss jede Stunde, die ihm der Zar widmete.
„Schade, dass der Tag so schnell vorübergegangen ist“, gestand ihm der Zar beim Abschied. „Es gibt noch so vieles, was ich gern mit Ihnen besprochen hätte, aber Sie bleiben ja jetzt bei uns, und da wird es sicher mal wieder eine Gelegenheit geben.“
„Wo werde ich bleiben?“, fragte ihn Schamil.
„Das ist noch nicht ganz geklärt, wir werden sehen, irgendwo in der Provinz, denke ich. Doch zunächst einmal reisen Sie nach Moskau und Petersburg. Ich möchte, dass Sie diese Städte besuchen und dort das Leben, die öffentlichen Einrichtungen und nicht zuletzt auch meinen Hof kennenlernen. Genießen Sie diese Wochen und Monate und seien Sie überzeugt, dass das Wohlwollen, das man Ihnen überall entgegenbringt, so echt und aufrichtig ist wie meine eigenen Gefühle Ihnen gegenüber. Sie waren mein Gegner im Krieg, aber Sie sind nicht mein persönlicher Feind, sondern ein großer, heldenhafter Führer, den ich achte.“
Achtung, Begeisterung und ungekünstelte Freude schlugen Schamil auch weiterhin entgegen, als er auf seiner Fahrt nach Norden wie ein Held überall gefeiert wurde. Diese Sympathie war nicht nur auf den Befehl Alexanders zurückzuführen, der Imam sei auf seiner Reise durch Russland mit äußerstem Respekt zu behandeln und allen Befehlshabern, Adligen sowie der hohen Geistlichkeit vorzustellen, vielmehr waren es Wärme und Zuneigung, die ihm aus den Herzen aller Schichten der Bevölkerung entgegenströmten.
„Endlich habe ich Gelegenheit, Sie zu sehen, Imam, den Mann, den ich mir am liebsten als Gegner gewünscht hätte“, gestand ihm der alte General Jermolow, als Schamil ihn in seiner Moskauer Wohnung aufsuchte. „Aber leider war ich schon längst abgetreten, als Sie auf den Plan traten.“
„Auch ich freue mich über unsere Begegnung, General. Sie wissen vielleicht, dass ich schon einige Tage hier in Moskau bin und manches gesehen habe, den Kreml, die Kronjuwelen und vieles andere mehr.“
„Und? Wie ist Ihr Eindruck?“
„Ich hätte nie gedacht, dass es so etwas gibt. Mit einem Wort: überwältigend! Aber mein Besuch bei Ihnen ist, Sie dürfen es mir glauben, der Höhepunkt meines Aufenthalts in Moskau“
Der sonst so brummelige Jermolow strahlte.
„Kommen Sie, setzen Sie sich! Lassen Sie uns von früheren Zeiten sprechen. Sie trinken doch einen Wodka?“
„Nein, danke, General“, wehrte Schamil höflich lächelnd ab. „Sie sind mir hoffentlich nicht böse, aber ich -“
„Richtig! Wie konnte ich nur vergessen, dass Sie als Muslim ein Feind des Alkohols sind. Soviel ich weiß, sind Sie in der Beziehung auch streng gegen Ihre Soldaten gewesen.“
„Nicht nur darin.“
„Hatten Sie nicht sogar die Musik in den Auls verboten?“
„Ja, obwohl ich selbst ein Freund der Musik bin.“
„Warum dann dieses Verbot, dieses karge Leben ohne Freude?“
„Weil ich so wenig Muriden hatte, ich meine Soldaten, verglichen mit Ihren Millionen in Russland. Deshalb habe ich auch Tabak, Wein und Tanz verboten, nicht weil ich es für eine Sünde hielt, sondern weil ich die Wirkung auf meine Truppen fürchtete. Sonst hätten meine Männer die Nächte lieber in den Armen einer Frau als auf Wache zugebracht und das Lied der Schlachten über dem Gesang ihrer Geliebten vergessen.“
„Umso erstaunlicher, dass sie Ihnen so lange gefolgt sind. Wie man weiß, sind Ihre Krieger auch sonst nicht gerade verwöhnt worden.“
„Da haben Sie recht, General. Als ich neulich eine russische Kaserne besichtigen durfte, war ich überrascht über so viel Luxus für die Soldaten.“
„Luxus?“
„Ja, aber die Decken und Kissen, über Sauberkeit und Ordnung. In solch einer Umgebung wären meine Soldaten erstickt. Doch auch mit dem besten Willen wäre es mir nicht möglich gewesen, sie so zu verwöhnen. Ich war arm und konnte ihnen nur wenig bieten. Sie kamen als Gäste zu mir, um an meiner Seite zu kämpfen, und ich gab ihnen, was ich konnte.“
„Und jetzt sind Sie mein Gast“, sagte der alte General mit Nachdruck. „Wenn Sie schon meinen Wodka ausschlagen, hoffe ich, dass Sie wenigstens nichts gegen einen Tee einzuwenden haben.“
„Im Gegenteil, ich würde gern eine Tasse Tee mit Ihnen trinken, General.“
Jermolow bediente selbst den Samowar und reichte seinem Gast die Tasse. Er war noch immer ein großer, bärenstarker Mann, auch wenn das Alter schon unverkennbar tiefe Spuren hinterlassen hatte.
„Hm, wenn ich Sie so betrachte, Imam, dann könnte ich Sie mir gut als Sohn vorstellen, dem Alter nach, meine ich.“
„Ich bin schon dreiundsechzig“, wandte Schamil ein, „und mehrfacher Großvater.“
Jermolow schmunzelte. „Genau wie ich sagte, ich könnte Ihr Vater sein. Denn immerhin habe ich schon fast zwanzig Jährchen mehr auf dem Buckel.“
„Das hätte ich nicht gedacht“, gestand ihm Schamil überrascht. „Zehn Jahre vielleicht, aber nicht das Doppelte.“
„Der Altersunterschied ist wohl auch der Grund, warum wir uns im Kaukasus nie begegnet sind. Zu meiner Zeit hatten wir es noch mit Ihrem Vorgänger zu tun, mit Kasi Mullah.“
„Er war nicht mein Vorgänger.“
„Aber Sie waren sein Stellvertreter.“
„Und dennoch nicht sein Nachfolger.“
„Ja, richtig, dazwischen gab es noch einen gewissen Hamsat Beg. Sie galten damals als verschollen. Die meisten hielten Sie sogar für tot.“
„Die meisten wären an denselben Verwundungen sicher gestorben.“
„Ja, Imam, Sie waren immer ein harter Mann: hart gegen sich selbst wie gegen Ihre Feinde.“
„Genau wie Sie, General.“
„Wenn man stets vorher wüsste, wie alles endet, würde man vielleicht anders handeln.“
„Kommt diese Einsicht nicht immer erst dann, wenn es schon zu spät ist?“
„Wir alle wissen das, besonders wir Alten, aber die Jungen hören nicht auf uns. Sie wollen jedes Mal die Welt selbst erobern und neu gestalten. Erst wenn sie weise geworden sind, merken sie, was für einen Scherbenhaufen sie hinterlassen haben.“
„Und so geht es immer weiter.“
„Überlassen wir das lieber den Philosophen, die verstehen sich besser darauf. Wir beide sind alte Haudegen, und deshalb kann ich Ihre Leistung besonders würdigen. Ich habe großen Respekt vor Ihnen, Imam, und Ihren Soldaten. Wie haben Sie es eigentlich fertiggebracht, uns so lange die Stirn zu bieten – eine Handvoll gegen unsere Übermacht?“
„Das ist eine lange Geschichte, General, verbunden mit vielen Gründen.“
„Wir haben noch den ganzen Abend vor uns, Imam. Lassen Sie uns von früheren Zeiten sprechen, von Siegen und Niederlagen, vom Glanz vergangener Tage.“
„Der Tag der Befreiung ist nahe. Bald werden die Ungläubigen für immer und ewig aus eurem Land vertrieben sein. Hört und befolgt, was geschrieben steht. Seid stark! Haltet eure Waffen für den Kampf bereit, befestigt eure Dörfer, bezwingt euer Fleisch, wie ihr bald eure Feine bezwingen werdet! Wir nageln ihre Hände an unsere Tore, ihre Köpfe werden den Berg hinabrollen, und ihr Blut soll unsere Flüsse rot färben. Nicht eher werden wir ruhen, bis unsere Heimat, unser Kaukasus, endlich wieder frei ist!“
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