Janos war froh, dass dies die letzte Aufführung vor der Sommerpause gewesen war, sodass nun eine Erholungspause folgte. Mit Jiri, dem Choreographen, den er schon aus seiner Prager Zeit kannte, war er seit mehreren Jahren liiert. Die beiden waren ein erfolgreiches Team, das die Grundfesten des Züricher Balletts bildete. Auch über die Grenzen der Stadt hinaus waren sie in der Kulturszene aktiv und beteiligten sich an diversen Aktionen für ein neues Partnerschaftsgesetz. Ihre eigene Beziehung war jedoch immer wieder schweren Belastungsproben ausgesetzt, da Janos es mit der Beständigkeit nicht so genau nahm und Jiri zu schwach war, um konsequente Treue einzufordern. Dennoch hielten sie an ihrer Beziehung fest, zumal Jiri ebenfalls das Bergsteigen liebte. Beide hatten sogar im vergangenen Jahr einen beinahe erfolgreichen Versuch gestartet, das Matterhorn zu besteigen. Wegen des schlechten Wetters mussten sie jedoch kurz vor dem letzten Gipfelanstieg umkehren. Ihre eher einfache Ausrüstung hatte bei diesen Witterungsverhältnissen den Anforderungen nicht standgehalten. Sie hatten nicht genügend Geld, sich gutes professionelles Equipment zu besorgen.
„Weißt du Jiri, ich fühle mich total ausgepowert und mein Kopf ist nach der langen Saison ganz leer. Ich brauche Ablenkung und endlich wieder andere Herausforderungen.“
„Janos, lass uns später darüber reden, wenn du wieder bei Kräften bist. Anfang Juli ist sicherlich ein guter Zeitpunkt. Du weißt, wir hatten uns etwas vorgenommen: Das Matterhorn wartet auf uns.“
„Das ist eine tolle Idee. Dann haben wir jetzt noch gute vier Wochen und können uns in aller Ruhe vorbereiten.“
„Hast du auch die Kraft dazu, Janos, ich meine, wegen deiner Krankheit? Das kann sehr anstrengend für dich werden!“
„Mach dir keine Sorgen. Wenn ich die ganze Saison bis zum abschließenden Höhepunkt heute tanzen konnte, kann ich auch auf den höchsten Punkt klettern. Wir brauchen aber sehr gutes Wetter, nicht so wie letztes Mal. Matterhorn, ich komme!“
Schon am nächsten Tag begannen sie mit ihren Vorbereitungen.
17
13.07.2006. St. Gallen
Zur Abiturfeier in der großen Aula des ABA-Internats waren sie alle angereist: Carolin und Mäc mit Melanie und Onkel Chris. Philipp war zu seinen Eltern zuletzt in den Osterferien zum Skilaufen im Aletschgebiet gereist. Dort hatte er schon als Kind die Skischule während ihrer Urlaube besucht und kannte sich auf den Pisten gut aus. Hier war er immer in der Lage, sich während weniger Tage auf seinem Snowboard richtig zu erholen. Danach standen die Klausuren fürs Abi an und das hieß, konzentriert zu büffeln. Genau das hatte Philipp getan und sich mit seiner Begabung für die Naturwissenschaften ein sehr gutes Abiturzeugnis erarbeitet, worauf er jetzt außerordentlich stolz war. Im Nachhinein war er seiner Mutter und Onkel Chris dankbar, dass sie seinem Leben diese Richtung gegeben und alles ermöglicht hatten. Vielleicht wäre er in Bonn nicht so weit gekommen.
Philipp trug einen dunklen Anzug – das war bei solchen Feiern am Haus ABA Vorschrift – eine Krawatte hatte er jedoch abgelehnt. Sein schwarzes Haar, in das sich bereits ein paar kleine, weiße Strähnen stahlen, hatte er seit einem halben Jahr wachsen lassen, am Morgen mit etwas Gel zum Glänzen gebracht und streng nach hinten gekämmt. Er war sehr schlank geworden, wirkte elegant und ein wenig intellektuell. Dennoch war sein Teint blass geblieben und seine Augen lagen tief in den Höhlen.
Nach den offiziellen Feierlichkeiten lud Mäc alle in das beste Restaurant von St. Gallen ein. Er hatte alles prächtig organisiert und eine lange Rede gehalten. Melanie war jetzt 15 Jahre alt und sah in ihrem schicken, knielangen, champagnerfarbenen Sommerkleid sehr hübsch aus. Ihr langes blondes Haar war zu einem Pferdeschwanz frisiert, der mit einer sehr bunten, dünnen Schleife zusammengebunden war. Sie riecht umwerfend gut, dachte Philipp, als er ihr während der Fahrt zum Restaurant im Auto nahe kam. Dass sie vor allem aber sehr neugierig war und ihm die peinlichsten Fragen nach der Anzahl seiner bisherigen Freundinnen oder seinen Erfahrungen mit Drogen stellte, gefiel ihm gar nicht. Als sie dann später auch noch eine Zigarette rauchte und ein Glas Sekt trank, verlief Philipps Begeisterung für sie im Sande und er mied ihre Nähe.
Carolin war sehr stolz auf ihren Sohn, der seinem Vater inzwischen so ähnlich sah, sorgte sich aber gleichzeitig wegen seines Aussehens. Denn sein blasses Gesicht, die tief liegenden Augen und das beginnende Grau in seinem Haar befremdeten sie. Bei Hans war das alles nicht so gewesen. Chris blieb wie immer die Ruhe selbst und wirkte wie der Fels in der Brandung.
18
Melanie blieb für Philipp an den kommenden Tagen dennoch sehr interessant, denn sie war ja seine Schwester. Er wollte herausfinden, ob sie so wie er selbst ebenfalls mit solch quälenden Problemen zu kämpfen hatte. Ohne, dass sie es merkte, beobachtete er Melanies selbstsicheres Auftreten bei allem, was sie unternahmen, genau. Ja, sie war schon sehr hübsch geworden, aber ihre offensichtliche Effekthascherei und ihre Oberflächlichkeit, die er lächerlich fand, waren noch so schrecklich pubertär und passten nicht zu den Ansprüchen, die Philipp an sich selbst stellte.
Er konnte kaum glauben, dass dieses Girly wirklich seine Stiefschwester war. Äußere Ähnlichkeiten konnte er zwischen ihnen kaum feststellen. Sie hatte im Gegenteil viel von Mäc: die hohe Stirn und den kurzen Augenabstand, der ihrem Gesicht, wie auch dem ihres Vaters, das typisch schmale Aussehen gab; dazu kam die überspannte Eitelkeit und das rücksichtslos selbstbewusste Auftreten. Von Carolin hatte sie die blonden Haare und den widerspenstigen Wirbel über der linken Stirnhälfte, den man nur zähmen konnte, wenn das Haar fest nach hinten gebunden wurde. Aber war er tatsächlich ihr Stiefbruder? So verschieden konnten doch zwei Kinder ein und derselben Mutter nicht sein. Denn eigentlich verband ihn nichts mit Melanie.
Unvermittelt schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er vielleicht adoptiert worden war. Schließlich war ihm längst aufgefallen, dass der Tag seiner Geburt fast genau neun Monate hinter dem Todestag seines Vaters lag. Wie war das möglich? Mutter hatte zwar immer betont, dass er wirklich und wahrhaftig der leibliche Sohn seines Vaters Hans Baltin sei. Daran solle er nie zweifeln. Aber Onkel Chris hatte mal erwähnt, dass seine Eltern vor seiner Geburt große Schwierigkeiten hatten, ein Kind zu zeugen. Er überlegte, dass sie vielleicht kurz vor dem Tod seines Vaters schon ein Kind adoptiert hatten, also ihn als kleinen Säugling. Und alle, die davon wussten, schwiegen. Jetzt überfielen ihn große Zweifel. War er wirklich das Kind seiner Eltern? Aber von der Mutter hatte er das große Muttermal auf der rechten Halsseite geerbt, das war klar. Sein Vater war angeblich Linkshänder gewesen, genauso wie er, ebenso konnte die naturwissenschaftliche Begabung nur von ihm stammen, denn die Stärken seiner Mutter lagen als Historikerin und Anglistin eindeutig im Schöngeistigen.
Einmal hatte er im Schreibtisch seiner Mutter zufällig die Blutspendeausweise seiner Eltern aus deren Studentenzeit gefunden. Beide besaßen die häufig vorkommende Blutgruppe A Rhesus positiv, wie er selbst auch. Diese Übereinstimmung sprach mit einer mehr als 90-prozentigen Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine genetische Abstammung vorlag, hatte Onkel Chris ihm damals auf seine Frage hin erklärt, sodass alles darauf hindeutete, dass er wirklich das Kind seiner Eltern war. Aber dennoch blieb das unterschwellige Gefühl eines Restzweifels in ihm zurück.
19
An den folgenden Tagen nahm sich die Familie Zeit füreinander und sie genossen bei strahlendem Wetter die Stadt und die Umgebung. Eine Bootsfahrt auf dem Bodensee war Philipps Wunsch gewesen, denn dabei konnte er seine Verwandten in aller Ruhe eingehend und ausführlich beobachten. Kleine Wanderungen standen auf der gemeinsamen Wunschliste von Chris und Mäc, Melanie wollte shoppen und auf Carolins Vorschlag hin besuchten sie einige Museen. Für sie als Historikerin war das Historische Museum mit seiner Völkerkundeabteilung Pflicht. Philipp vertrieb sich die freie Zeit damit, seine Schwester zu necken. Er war ihr natürlich geistig überlegen und nutzte das ziemlich aus. Es machte ihm einen geradezu teuflischen Spaß, sich so an der ungeliebten, von ihm nicht akzeptierten, affektierten Schwester zu rächen, um Melanie ganz bewusst ihre Verschiedenartigkeit vor Augen zu führen.
Читать дальше