„Marie, vielleicht kannst du ja doch noch geheilt werden, vielleicht haben die sich bei der Diagnose geirrt. Man weiß doch schon lange, dass, wenn du es intensiv und wirklich willst, auch Selbstheilungskräfte entstehen können. Du musst es nur ganz fest wollen.“
„Ach Philipp, wenn das so einfach wäre. Ich kämpfe schon so lange gegen meine Krankheit an und es hat nichts geholfen. Ich habe keine Hoffnung mehr.“
Philipp versuchte alles, um ihr Trost zu spenden und Perspektiven aufzuzeigen. Er wusste ja, dass sie vorerst nicht sterben würde. Da Philipp Marie nichts von seinen dunklen Fähigkeiten sagen mochte, umschrieb er seine Hoffnungen mit Hinweisen auf ihre spürbare Lebenskraft und ihre positive Aura. Er legte alle Überzeugungskraft in seine Worte und Marie sah ihn tief beeindruckt an. Keiner ihrer früheren Ärzte und Psychologen hatte ihr je ein solches Gefühl vermitteln können.
„In Ordnung“, sagte sie und beschloss spontan, diesem jungen Guru zu vertrauen.
14
In der folgenden Zeit trafen sie sich häufig, sprachen viel über den Tod, aber auch über dessen Überwindung und das Glück, Leben in sich zu verspüren. Philipp bemühte sich nach Kräften, Marie mit schönen Dingen und Erlebnissen aufzumuntern. Er durfte sie sogar im PM-Institut besuchen und lernte ihre Eltern kennen. Das Zusammensein mit Marie machte ihn glücklich und er wusste, dass er sich in dieses Mädchen verliebt hatte. Marie erwiderte seine Gefühle und wünschte sich so oft wie möglich mit ihm zusammen zu sein. Da Philipp deshalb öfter die Schule schwänzte, musste er sich von jetzt an bei der Schulleitung abmelden, obwohl seine Leistungen sich sogar noch verbesserten.
Maries Eltern versprachen der Schulleitung, streng auf den Jungen zu achten, hatten aber in Wahrheit beim Direktor mit einem „kleinen Geschenk“ etwas nachgeholfen, um das Glück ihrer Tochter nicht zu gefährden. Sie versprachen außerdem, Philipp selbst mit dem Auto abzuholen und wieder ins Internat zu bringen.
Die Zeit arbeitete für Marie und damit auch für Philipp. Es ging ihr wieder besser. Philipp dachte sich, dass er seine Fähigkeit, den Tod zu erahnen vielleicht auch ins Gegenteil verkehren könnte, um sie gewissermaßen auch zur Todesabwehr einsetzen zu können. Er stellte sich vor, dass er das auch genauso spüren müsste. Heimlich versuchte er, immer wenn Marie in ihrem Liegestuhl lag und schlief, seine Gedanken darauf zu konzentrieren, ihr Lebenskraft und Heilung zu wünschen. Er spürte dabei nichts, kein Herzklopfen, keinen bittereren Geschmack, keine Erektion. Philipp versuchte es immer wieder, aber nichts geschah, bis sie eines Nachmittags zusammen durch die Stadt schlenderten und sich lustige Szenen aus alten Spielfilmen ausmalten. Es traf ihn wie einen Schlag! Philipp blieb abrupt stehen und musste sich sammeln. Marie schaute ihn an, gespannt darauf, welchen Gag er sich diesmal ausgedacht hatte. Aber stattdessen wurde er blass, begann zu zittern und schaute Marie in die Augen. Bitte nicht! Bitte nicht, dachte er. Das war unverkennbar ein Anfall und der galt eindeutig Marie. Er nahm ihren Arm und bat sie, mit ihm ins PM-Institut zurückzufahren. Marie verstand das nicht richtig, doch sie folgte ihm wortlos.
Philipp brachte sie auf ihr Zimmer und setze sich neben sie. Wie sollte er ihr das jetzt erklären? Sie würde ihm nicht glauben. Er, der so positiv auf sie eingewirkt hatte, war es jetzt, der ihr den bevorstehenden Tod ankündigen sollte? Das brachte er nicht übers Herz. Niemals. Um Marie nicht zu beunruhigen, sagte er ihr, dass ihm eben ganz flau geworden sei, weil er seit der Geburt einen Herzfehler habe.
„Ich muss jetzt gehen“, fügte er entschuldigend hinzu, „wenn es mir wieder besser geht, komme ich wieder.“ Marie hatte Verständnis und ließ ihn gehen – ohne den üblichen Kuss.
Am Abend rief Philipp Onkel Chris an und bat ihn um Hilfe.
„Philipp, es tut mir leid, dass du nun schon wieder mit dem Tod konfrontiert wirst. Offensichtlich hast du eine besondere Affinität dazu geerbt. Damit musst du leider leben. Und höre: Du kannst Marie nicht helfen und du kannst auch nichts ändern, so sehr du das auch möchtest. Du musst dich damit abfinden. Wenn ein Leben zu Ende geht, musst du das respektieren.“
„Nein, Onkel Chris, damit werde ich mich nie abfinden.“
15
In den folgenden Tagen verschlimmerte sich Maries Zustand. Die Eltern baten Philipp, vorerst nicht mehr zu kommen, da Marie sehr schwach sei und sie starke Medikamente nehmen müsse. Philipp hielt es natürlich nicht im Internat. Er kletterte heimlich über die efeuberankte Mauer, rannte zum PM-Institut und gelangte unbemerkt in Maries Zimmer. Da lag sie in ihrem Bett, an Schläuche angeschlossen und mit einer Atemmaske vor dem Gesicht. Als Philipp vor ihr stand, begann er wieder zu zittern. Er ließ alles, was jetzt mit ihm geschah, zu, denn er wollte Marie nur noch beruhigen und bei ihr sein. Sie spürte seine Gegenwart und öffnete die Augen. Langsam schob sie sich die Maske vom Gesicht und sagte leise, immer wieder nach Luft ringend:
„Meine Krankheit ist zurückgekehrt, Philipp, schlimmer als je zuvor. Ich kann kaum atmen. Ich will jetzt sterben und morgen wird mein letzter Tag in diesem Leben sein. Amen.“ Sie lächelte zaghaft und beiden Verliebten war klar, dass es tatsächlich so kommen würde.
Philipp setzte sich trotz seiner momentanen körperlichen Widrigkeiten neben sie und schob ihr die Atemmaske wieder vorsichtig auf das Gesicht. Er hielt ihre Hand und drückte sie fest, um ihr seine tiefe Verbundenheit und Liebe zu zeigen. Marie hatte kaum noch die Kraft, den Druck seiner Hand zu erwidern. Als Maries Eltern jetzt das Zimmer betraten, baten sie ihn freundlich darum, zu gehen. Philipp antwortete, dass er Maries Entscheidung bewundere und unterstütze, so sehr er den Tod auch hasse. Dabei litt er Höllenqualen und verfluchte die Todesahnung, die ihn wieder einmal überfallen hatte.
Am nächsten Morgen gegen neun Uhr wurde ihm schrecklich übel und er durchlitt eine neue, heftige Attacke. Wegen seines Unwohlseins bat er seinen Klassenlehrer in seinem Zimmer bleiben zu dürfen. Entkräftet und am ganzen Körper schwitzend legte er sich auf sein Bett und dachte unentwegt an Marie. Um Punkt 12:00 Uhr spürte er, dass er wieder ruhig wurde, fiel in einen tiefen Schlaf und wachte erst am späten Abend wieder auf. Philipp beschloss, diesen schlimmen Tag zu vergessen und niemandem von diesen unerklärlichen Vorgängen zu erzählen. Im Moment war er einfach nur froh, dass alles überstanden war.
16
Ende Mai 2006
Unmittelbar nach dem Ende des zweiten Akts fiel der Bühnenvorhang überstürzt und hastig, obwohl das Züricher Publikum begeistert applaudierte. Man gab „Giselle“, ein Ballett, das über Monate ausverkauft war. Der Tänzer, der den jungen Adligen Albrecht darstellte, hatte sich bei seinem schwierigen Grand Pas de deux vollkommen verausgabt, weil er mit seinen virtuosen Sprungfolgen an die Grenzen seiner körperlichen Leistungsfähigkeit gegangen war. Janos war der Star des Züricher Ballettensembles und wollte, da viele Zuschauer gerade seinetwegen gekommen waren, wie immer sein Bestes geben. Jiri, der Choreograf zog den Erschöpften hinter die Bühne, gab ihm zu trinken und fächelte ihm Luft zu. Nach einer langen Atempause präsentierte er sich schließlich mit eleganten Sprüngen wieder auf der Bühne. Janos genoss den Applaus und spürte, wie seine Kraft zurückkehrte. Vor drei Jahren hatte er sich mit dem AIDS-Virus infiziert, aber mit Hilfe von wirksamen Medikamenten seine tänzerischen Qualitäten und die enorme Sprungkraft erhalten können. Er wusste, dass das Ende seiner Karriere irgendwann kommen würde, wollte das aber durch eine strenge disziplinierte Lebensweise hinausschieben. Dazu gehörte neben einer bewussten Ernährung vor allem auch der Sport. Als Kind war er oft mit seinem Vater in Tschechien gewandert und mit ihm auch in die Slowakei gefahren, um im Gebiet der Hohen Tatra zu klettern. Seitdem faszinierte ihn das Bergsteigen. Trotz seiner zierlichen Figur war er sehr kräftig und besaß eine gute Ausdauer, sodass er hier in der Schweiz so oft wie möglich in die Berge ging.
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