Als Melanie endlich bemerkte, dass Philipp ihr nicht schmeicheln wollte, sondern sie eigentlich gar nicht leiden konnte, ging sie auf seine Spielchen nicht mehr ein und blieb ganz in der Nähe ihrer Eltern. Sie beschwerte sich über Philipps Aggressionen und seine unverschämten Anspielungen und wollte am liebsten sofort abreisen. Mäc warf Philipp daraufhin Undankbarkeit und Arroganz vor und es kam zum Streit. Chris vermittelte, führte Melanies Pubertät in Feld, die verschiedenen Charaktere der beiden Kinder und Carolin saß zwischen allen Stühlen. Sie liebte ihre Tochter, dieses aufgeweckte und lustige Mädchen. Die beiden verband eine innige Beziehung, der auch die Pubertät nichts anhaben konnte. Carolin hatte immer ängstlich darauf gewartet, dass bei Melanie eines Tages die gleichen Symptome wie bei Philipp auftreten könnten und sie war froh gewesen, dass das bis jetzt nicht der Fall war. Sie liebte natürlich auch ihren Sohn, konnte aber dennoch ihr Befremden über seine Veränderung nicht verhehlen.
Am Abend vor der Heimreise sprach sie mit Chris darüber. Es war nicht zu leugnen, dass Philipp anders geworden war, ganz abgesehen von seinem Problem. Chris und sie waren die Einzigen, die von seiner ungewöhnlichen Zeugung wussten und beide plagte ein schlechtes Gewissen, da sie beschlossen hatten, Philipp niemals die genauen Details und Umstände zu schildern. Das sollte ihr Geheimnis bleiben. Sie wollten ihm lediglich sagen, dass es eine künstliche Befruchtung gewesen war. Nun aber schlug Chris vor, dass das Geheimnis nicht weiter gehütet werden dürfe und Philipp das Recht habe, die ungeschminkte Wahrheit zu erfahren, damit er in Zukunft ganz selbstverantwortlich mit seinem Schicksal umgehen könne. Carolin sah sich dazu nicht in der Lage. Nach reiflicher Überlegung wollte Chris sich, trotz großer Ängste, der Aufgabe stellen und dem Jungen alles erklären.
Am nächsten Tag nahm er Philipp zur Seite und schlug ihm vor, wegen des besonders schönen Wetters einen gemeinsamen Wanderurlaub an ihr Zusammensein anzuschließen.
„Du, ich habe noch eine Woche frei und schon lange vorgehabt, in den Walliser Bergen von Hütte zu Hütte zu wandern. Und weil wir beide hier jetzt schon mal so nah dran sind, sollten wir die Gelegenheit nutzen, was meinst du? Es gibt da gut markierte, leichte Wanderwege in circa 2000 Metern Höhe und richtig bequeme Übernachtungsmöglichkeiten in den Hütten. Das wäre doch für uns beide eine wunderbare Entspannung, außerdem hätten wir endlich mal Zeit, in Ruhe miteinander zu reden.“
„Ich weiß nicht“, Philipp war sich unsicher, „das können wir doch auch woanders machen. Deswegen muss ich doch nicht klettern.“
„Du sollst ja auch nicht die Gipfel besteigen, sondern relativ stressfrei wandern. Soviel Kondition wirst du doch schon haben, Philipp. Deine Zwei in Sport kommt sicher nicht vom Schachspielen. Wie ich gehört habe, bist du ein guter Langstreckenläufer. Dann sollte das für dich kein Problem sein.“
Philipp war immer noch skeptisch, da er sich körperlich nicht so fit fühlte und auch Angst vor der Einsamkeit, der Höhe und den Strapazen des Bergsteigens hatte. Chris blieb aber hart, insistierte und gab nicht nach, bis Philipp zögernd zustimmte. Als Carolin das erfuhr, konnte sie ihre Erleichterung, aber auch ihre fürchterliche Angst vor Philipps Reaktion auf die Eröffnung der Wahrheit nicht in Worte fassen. Sie zitterte am ganzen Leib und verabschiedete sich sehr kurz und zu Philipps großer Verwunderung unter Tränen mit einem: „Ich liebe dich, vergiss das nie!“
20
Chris quartierte sie beide in einem der besten Hotels in Zermatt ein. Inzwischen waren sie gut informiert, hatten die möglichen Routen ausfindig gemacht und sich mit einer guten Ausrüstung versehen. Proviant gab es auch genügend und am nächsten Morgen starteten sie auf dem markierten Höhenweg in Richtung Schwarzsee, wo sie zum ersten Mal übernachten wollten.
Der Aufstieg war zwar mühsam, aber bei herrlichem Wetter belohnte sie das imposante Panorama der Walliser Bergwelt mit ihren majestätischen Viertausendern. Am späten Nachmittag erreichten sie die Hütte und richteten sich ein. Ein traumhafter Blick auf das Matterhorn im Abendrot und den kristallklaren Schwarzsee mit seiner Kapelle „Maria zum Schnee“ tat sich auf. Nach und nach fanden weitere Wanderer den Weg und die Hütte füllte sich. Als Philipp sein duftendes Käsebrot mit Cornichons und den kleinen Essigzwiebeln verspeist hatte, überfielen ihn ganz plötzlich Übelkeit und die ihm wohl bekannte Erregung. Seine Angst und das innere Zittern wurden immer stärker und unweigerlich zog es Philipps Aufmerksamkeit in eine ganz bestimmte Richtung, hin zu zwei Bergsteigern, die gerade den Weg erklommen.
Es waren zwei hagere junge Männer in Bergsteiger-Kluft, die eher wie Tageswanderer relativ einfache Wanderschuhe trugen. Dennoch führten sie Seile und Haken mit sich, als ob sie Größeres vorhätten. Philipp fühlte sich regelrecht zu dem kleineren der beiden Männer hingezogen. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals und es drängte förmlich, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Chris bemerkte nichts davon, da er in ein intensives Gespräch mit einem Schweizer Bergführer vertieft war. Philipp wandte sich ihnen zu und fragte den Bergführer, ob er die beiden Männer kenne.
„Ja, ich war mit den beiden schon mal unterwegs. Sie kommen ursprünglich aus Tschechien und wenn morgen das Wetter gut ist, wollen sie den Aufstieg zum Matterhorn wagen.“ Er sah Philipps skeptischen Blick und fügte grinsend hinzu: „Täusch dich nicht, die beiden sind gut trainiert und bestimmt bestens vorbereitet, auch wenn das auf den ersten Blick nicht so aussieht.“
Aber Philipp fühlte ganz deutlich, dass da etwas nicht stimmte. Er sprach die beiden an und versuchte mit allen Mitteln den kleineren Tschechen von ihrem geplanten Aufstieg abzubringen. Da er aber vom Bergsteigen selbst keine Ahnung hatte, wirkten seine Argumente blass und sein Gegenüber lachte ihn am Ende sogar aus. Philipp konnte ihm ja nicht seine Sicht der Dinge mitteilen, denn das hätten andere erst recht nicht geglaubt. Trotzdem ertrug Philipp es nicht, dass seine Warnungen einfach so abgetan wurden.
Als er zurück an den Tisch kam, stieß er auf einen skeptisch dreinblickenden Onkel, der den letzten Teil der engagierten Auseinandersetzung gehört hatte. Chris bat Philipp, sich zu beruhigen, die Leute wüssten schon, was sie täten, auch wenn ihm das jetzt fremd erschiene. Schließlich akzeptierte Philipp die Situation widerwillig und verzichtete auf weitere Einwände.
Die folgende Nacht war kurz, denn Bergsteiger stehen sehr früh auf und das bleibt auch nicht unbemerkt. Dennoch warteten Chris und Philipp noch etwas länger in ihren Betten, bis die meisten Bergsteiger fort waren. Da sie selbst nur einfache Bergwanderer waren, konnten sie alles gemütlicher angehen.
Als sie den Speisesaal zum Frühstück betraten, waren die beiden Tschechen schon weg. Das beunruhigte Philipp sofort wieder. Chris redete erneut auf ihn ein, aber Philipp blieb nervös.
Sie packten die Rucksäcke und machten sich auf den Weg zur Hörnlihütte. Es gab einen anspruchsvollen und gut ausgeschilderten Zickzackweg dorthin. Die Route führte sie über 600 Höhenmeter an sehr felsigen und lockeren Geröllfeldern entlang nach oben. Trotz der Höhenlage war es sehr heiß und sie gerieten ab und zu außer Atem. Sie befanden sich jetzt oberhalb der Baumgrenze, wo es kaum noch Schatten gab. Die einzelnen Etappen, die sie zum Aufstieg inzwischen zurückgelegt hatten, wurden mit zunehmender Tageslänge immer kürzer und die Pausen dazwischen immer länger. Sie merkten, dass sie körperlich nicht auf diese Höhe eingestellt waren, dennoch kamen sie recht gut voran und blieben im vorgegebenen Zeitplan.
Bei der Überquerung eines der vielen Geröllfelder geriet Philipp über ein paar lockere feuchte Steine plötzlich ins Rutschen und stürzte kopfüber ungefähr 10 Meter über unbefestigte Felsbrocken hinunter, wobei er sich mehrfach überschlug, bis er regungslos liegenblieb. Er schien bewusstlos zu sein. Chris stieg sofort und so schnell wie möglich am Rande des Feldes ab, um dann quer zum Hang zu Philipp vorzudringen. Philipp war bei Bewusstsein und schaute ihn an. Er lachte und fand das Ganze eher lustig. Chris war erleichtert, sah aber gleichzeitig, dass Philipp heftig am Kopf blutete. Er nahm sofort den Erste-Hilfe-Kasten aus seinem Rucksack und legte ihm fachmännisch einen Kopfverband an. Erst als Philipp aufstehen wollte, merkte er, dass seine Knie schmerzten, und dass er sich wahrscheinlich die rechte Schulter geprellt hatte. Chris untersuchte ihn vorsichtig mit dem Ergebnis, dass vor allem die Schulter oder das Schlüsselbein etwas abbekommen hatten, weswegen er Philipp den rechten Arm mit einer Binde an den Körper band. Danach nahm er sein Handy und rief die Bergrettung an. Eine Fortsetzung ihrer Tour war nun ausgeschlossen. Hier oben gab es nur die Rettung per Hubschrauber, was die Bergrettungsgesellschaft Air Zermatt perfekt beherrschte.
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