„Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt!“, hatte er ihnen nachgerufen. „An euch werde mich auf meine Art rächen.“ Die Jungs lachten ihn zwar aus, dennoch war diese Drohung an Brackmann weitergegeben worden.
Der Lehrer ließ sich die Geschichte von Philipp noch einmal erzählen. Er wollte ihm klarmachen, dass er mit dieser Einstellung im Leben große Probleme bekommen werde. Er sollte auch als Pazifist für sein Wohl und sein Leben eintreten. Sich zu wehren, sei notwendig. Philipp reagierte nicht. Er war ziemlich blass geworden, zitterte und antwortete nicht mehr. Vielmehr war er es, der nun die Fragen stellte:
„Herr Brackmann, wie geht es Ihnen? Gut?“
„Na klar. Warum fragst du? Es geht hier nicht um mich, sondern um dich!“
„Ihrer Mutter auch?“
„Was soll das? Was hat meine Mutter damit zu tun? O.K., wenn es dich beruhigt: Ich glaube ja. Sie liegt unten im Bett. Sie hat sich hingelegt, weil ihr die üblichen Herzbeschwerden wieder einmal zusetzen.“
„Bitte gehen Sie zu ihr und helfen ihr. Ich für meinen Teil verspreche Ihnen hier jetzt alles, was Sie wollen – auch dass ich mich demnächst wehren werde. Aber bitte gehen Sie jetzt zu Ihrer Mutter. Das wäre besser. Jetzt sind Sie nicht zu Ihrem Vergnügen hier“, versuchte er zu spaßen, „aber es gibt Wichtigeres. Irgendetwas ist da unten los, hören Sie das nicht?“
Brackmann wunderte sich zwar, aber Philipp konnte durchaus Recht haben. Vielleicht hatte er wegen seiner inzwischen fortgeschrittenen Schwerhörigkeit das Rufen der Mutter nicht gehört, aber Philipp hatte etwas bemerkt.
In der folgenden Nacht erlitt Brackmanns Mutter einen schweren Herzanfall, der Notarzt konnte sie reanimieren und sie war ins Krankenhaus gebracht worden. Diesmal überlebte sie, war aber zwei Monate nach diesem Vorfall zu Hause an einer weiteren, diesmal tödlichen Herzattacke gestorben.
Brackmann bat Carolin ein paar Tage nach Philipps Besuch zu sich und sprach mit ihr über die Situation und wie er den Jungen erlebt hatte.
„Carolin, der Abfall der Noten und die beginnende Isolation in der Schule lassen nichts Gutes ahnen.“
„Ich weiß, Philipp hat sich verändert. Er ist so eigensinnig und manchmal lustlos, so als ob ihn dauernd etwas quält. Mir sagt er nichts und ich komme auch nicht an ihn heran.“
„Du musst handeln. Der Junge ist intelligent und kann sein Abitur locker schaffen. Nur hier bei uns nicht, denn er wird nicht integriert und will das auch gar nicht. Es scheint, als ob er keine Lust mehr dazu hätte. Ich glaube, dass er sehr einsam ist. Demnächst beginnt die Oberstufe, deshalb musst du etwas tun.“
„Wie stellst du dir das vor? Einen Schulwechsel halte ich für äußerst schwierig. Ich weiß nicht, wie Philipp darauf reagieren würde. Er ist sensibel und hätte an einer neuen Schule sicher noch mehr Probleme.“
„Es sollte ein richtiger Wechsel sein, einer, der Philipp komplett verändert. Der ihn ganz neu herausfordert. Weißt du was ich meine?
„Ich ahne es. Du meinst ein Internat.“
„Genau, und um es ganz rund zu machen – im Ausland. Ich denke da an England. Dort gibt es hervorragende private Internate. Oder du wählst die klassische Variante – die Schweiz.“
Das alles klang sehr überzeugend und Carolin sah ein, dass mit Philipp etwas geschehen musste. Sie dankte Brackmann für seine Hilfe und fuhr erleichtert nach Hause. Die notwendige Lagebesprechung beschränkte sie zunächst auf eine Diskussion mit ihrem Mann. Philipp wollte sie später dazu fragen. Da Mäc ihrer Einstellung beipflichtete und zustimmte, begannen die beiden damit, nach guten Schulen in England und der Schweiz zu suchen. Schließlich entschieden sie sich für St. Gallen, wobei der Schulwechsel bereits zur nächsten Versetzung stattfinden sollte.
Als Philipp erfuhr, was die Eltern bereits entschieden hatten, war er traurig und lehnte alles komplett ab. Nachdem er jedoch intensiv darüber nachgedacht hatte, fand er langsam Gefallen an der Vorstellung, von der Schule, den Menschen und vielleicht auch von seinen Problemen wegzukommen. Und schließlich freute er sich sogar auf den Schulwechsel.
San Francisco, den 04.August 2007, 11:45 p.m.
Lieber Philipp,
ich hatte heute Abend ein ausführliches und sehr fruchtbares Gespräch mit Professor Kerrington. Uns beiden liegt es sehr am Herzen, Dir zu helfen und Du kannst Dir denken, dass wir nichts unüberlegt und unversucht gelassen haben, diesen rätselhaften Phänomenen auf die Spur zu kommen. Für ihn als Neurophysiologen gab es nutzbringende Erklärungsansätze in dieser Richtung und er machte sich wirklich fundierte Gedanken darüber. Ich glaube, er ist dabei auf einen Zusammenhang gestoßen, der wirklich alles erklären würde. Eine faszinierende Kombination aus einer außergewöhnlichen Kausalhandlung und deren zwangsläufiger biologischer Weiterentwicklung mit ungeahnten Folgen. Du bist in gewisser Weise ein besonders einzigartiger Mensch. Es tut mir leid, dass es dir bisher mehr Kummer als Vorteile gebracht hat. Wir werden das ändern. Morgen werden Professor Kerrington, Mama und ich zu dir kommen und ich werde Dir alles erklären. Ich schreibe dir das heute, obwohl wir uns schon morgen an deinem 20. Geburtstag sehen, weil ich das dringende Bedürfnis habe, mein Glück über die gelungene Aufklärung hier und jetzt niederzuschreiben.
Sei du herzlich gegrüßt und ich freue mich auf morgen!
Dein Onkel Chris
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Das ABA-Institut in Sankt Gallen war eines der ältesten Internate der Schweiz. Es lag in einem schönen Jugendstilviertel am Stadtrand und war von den Brüdern Art und Beat Almend gegründet worden. In dem imposanten alten Hauptgebäude mit seinen mannigfachen Erkern, Türmchen und den dunkelbraunen Läden an allen Fenstern waren die Verwaltung und eine große Mensa mit langen Esstischen untergebracht. In der direkten Nachbarschaft befanden sich in ähnlichem Stil errichtete, mehrgeschossige Wohnhäuser für die Lehrer und Internatsschüler. Alles wirkte sehr gepflegt und äußerst sauber. Die Unterrichtsgebäude und die weitläufigen Sportanlagen waren später entstanden und ergänzten durch ihre Großzügigkeit den positiven Gesamteindruck. Eine mannshohe, begrünte Mauer umgab das Anwesen und der alte Baumbestand ließ das Gelände wie ein Park erscheinen.
Der Tagesablauf der Schüler war in vielerlei Hinsicht reglementiert. Das bedeutete, dass sie um sechs Uhr morgens aufstanden, danach frühstückten und sich pünktlich zum Unterrichtsbeginn um 7:45 Uhr in der Klasse einfanden. Das Internat gefiel Philipp und es ging ihm dort sehr gut. Die Lehrer bemühten sich sehr fürsorglich um ihn und es traten tatsächlich keine Anfälle mehr auf.
Die Stofffülle war eher noch umfangreicher als bisher, was ihn aber nicht abschreckte, sondern anspornte. Noch interessanter jedoch fand er die Herausforderung, die die Schweizer Sprache mit sich brachte. Er dachte zuerst, hier werde Deutsch gesprochen, aber vieles wurde doch anders und so sehr verschieden ausgedrückt, dass manchmal Verständnisschwierigkeiten auftraten, die aber schnell aufgelöst wurden. Dass sein Waschbecken hier ein Lavabo war, konnte er noch leicht einsehen, dass aber das Motorrad hier Töff hieß, dass die Polizei verzeigte statt anzeigte und Zuwiderhandlungen nicht bestraft, sondern als Fehlbare gebüßt wurden, und vor allem, dass sein Handy hier Natel hieß, war für Philipp sehr gewöhnungsbedürftig. Eher lustig fand er die Bezeichnung der Hundebesitzer als Hündeler oder den Begriff der Hospitalisierung für die Krankenhauseinweisung. Er lernte sehr schnell dazu und zwang sich, die Betonung auf die erste Silbe zu legen, wie es der Schweizer Sprachgebrauch im Gegensatz zum deutschen gerne vorsieht. Im Unterricht und in der Schrift galt allerdings strenger Zwang zum Hochdeutschen und darin war er sattelfest.
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