„Ich schon, Mama. Und ich habe es dir auch gesagt. In mir gibt es etwas, dass es mich spüren lässt. Glaub mir doch einfach.“
„Oma hat ihren Lebenskreis beendet und sie ist sicherlich niemandem böse. Auch dir nicht, obwohl du es offensichtlich gefühlt hast. Sie hat gewusst, dass es zu Ende ging und sie hat es zugelassen, auch wenn es für uns schrecklich war. Komm, wir setzen uns nebeneinander.“
Sie begann zu beten. Er kannte dieses monotone Rosenkranzgebet mit dem sich wiederholenden „Gegrüßet seist du, Maria“. Es kehrte Ruhe ein und Philipp konnte sich fangen. Später, als Mäc und Melanie dazu gekommen waren und alle voller tiefer Trauer schweigend im Raum verharrten, verließ Philipp den seltsam stillen Raum und zog sich in sein Zimmer zurück.
9
Dieser Abend blieb dem Jungen in beklemmender Erinnerung. Nach der Beerdigung wurde er zunehmend introvertierter und wortkarger. Er erledigte zu Hause und in der Schule nur das Notwendigste und zog sich mehr und mehr in sein Zimmer zurück. Philipp versuchte, die Nähe von Menschen zu meiden, wann immer es ging. Die seltsamen Attacken blieben. Er hasste sie, konnte sich aber nicht dagegen wehren. Immer, wenn sie auftraten, spürte er, wie ein unheimlicher Druck von seinem Körper Besitz ergriff, der sich so weit steigerte, dass er das Gefühl hatte, sein Kopf drohe zu platzen. Hinzu kamen körperliche Veränderungen wie Herzklopfen, Kältegefühl und Zittern. Ein salziger, eisenartiger Geschmack legte sich auf seine Zunge, ein beißender Geruch stieg ihm zuerst in die Nase, dann in den Hals und er bekam eine starke Erektion. Das alles war ihm zuwider und besonders wegen des erektionsbedingten Anschwellens der Hose äußerst peinlich. Er wusste, dass dieser Ablauf immer dann auftrat, wenn er sich in der Nähe von alten oder kranken Menschen befand oder während seiner Besuche bei Onkel Chris im Krankenhaus.
Anlässlich einer Weihnachts-Benefizveranstaltung seiner Schule im benachbarten Altersheim litt er mehrmals unter so starken Beschwerden, dass er hinausrennen musste, um sich zu befreien. Philipp war das unheimlich, so etwas konnte nicht normal sein. Er kam sich krank und verrückt vor. Nur zwei Menschen hatte er sich anvertraut: seiner Mutter und Onkel Chris. Seine Mutter reagierte einfach nur hilflos. Da Philipp bei ihr das Gefühl hatte, dass ihre Sprachlosigkeit eher einer verzweifelten Verschwiegenheit glich, fragte er nicht weiter. Onkel Chris bot ihm eine erneute gründliche, internistische Untersuchung an, aber Philipp lehnte das ab, worauf sein Onkel nicht weiter drängte. Chris schien kein Interesse daran zu haben, Philipps Phänomen anders als mit Tabletten, die er ihm für den Fall des Anfalls verschrieben hatte, auf den Grund zu gehen. Die kleinen Pillen hatten dem Jungen aber so gut wie nicht geholfen.
In Wahrheit jedoch machte Chris sich größte Sorgen um sein Patenkind. Er hatte Carolin vor einiger Zeit zu einem Spaziergang am Rheinufer eingeladen, um mit ihr darüber zu reden. Dabei hatten sie beide über ihre völlige Hilflosigkeit im Hinblick auf Philipps Verhalten geklagt. Als Carolin den Verdacht einer eventuellen Epilepsie-Erkrankung äußerte, wies Chris dies klar zurück.
„Der Junge hat noch nie einen typischen Anfall gehabt und bleibt immer klar im Kopf.“
„Aber er hat doch immer kurz vorher diese typische Aura, dieses unbestimmte Vorgefühl, wie kann man das erklären?“
„Es gibt zwar kindliche Formen der Epilepsie, die aber in der Pubertät ausheilen. Da spielen jedoch immer krampfartige Anfälle vor allem im Schlaf eine Rolle oder es fallen Sprechstörungen auf oder man ist wenigstens kurzzeitig bewusstlos. Nein, das hat Philipp nie gehabt und in der Familie gibt es auch niemanden mit einer solchen Erkrankung.“
„Vielleicht gab es eine Schädigung bei der Geburt?“
„Auch das kann ich ausschließen, denn ich war dabei. Da muss etwas anderes dahinter stecken. Vielleicht könnte die Erklärung doch in der künstlichen Befruchtung liegen.“
Er dachte an die sogenannte „intrauterine Insemination“, die er damals bei Carolin vorgenommen hatte. Diese direkte Befruchtung von Samen und Eizelle in der Gebärmutter war heimlich kurz nach dem Unfall von Hans durchgeführt worden. Chris machte sich Vorwürfe, dass er damals vielleicht einen entscheidenden Fehler begangen haben könnte.
„Hatte der Samen möglicherweise doch einen Schaden? Es ist damals alles so schnell gegangen. Dagegen spricht, dass sowohl die Schwangerschaft wie auch Philipps Kindheit und Jugend bis jetzt ganz normal verlaufen sind, bis auf diese Attacken eben. Der Junge ist gesund und aufgeweckt.“
„Bisher ja. Vielleicht merkt man das erst später“, gab Carolin zu bedenken.
„Aber derartige Spätfolgen hat, soweit ich weiß, noch nie jemand mit einer solchen Befruchtung in Verbindung gebracht.“
Sie verabredeten beide, vorerst nichts zu unternehmen. Es bestand ja auch die Möglichkeit, dass die Attacken mit der Pubertät zusammenhingen, dann brauchten sie nur abzuwarten, bis alles sich zum Guten wenden würde. Auf keinen Fall sollte Philipp vorerst etwas von der ungewöhnlichen Befruchtung erfahren.
10
Philipp war zwar ein hervorragender Schüler, der die besten Noten nach Hause brachte, war aber in seiner Klasse nicht integriert. Er hatte keine Freunde und er galt als Eigenbrötler, der oft seltsamen, morbiden Gedanken nachhing. Der Junge war sehr sensibel, machte sich aber auf ironische Art und Weise gern über seine Mitschüler lustig. Die Lehrer hielten ihn für einen hochintelligenten, tiefsinnigen, aber auch meist unzugänglichen Schüler. Mit 15, 16 Jahren begannen bei ihm jedoch, wie bei vielen anderen auch, die Noten zu sinken.
Das alte Argelander-Gymnasium in der Bonner Südstadt war naturwissenschaftlich orientiert, was Carolin sehr gefallen hatte. Da sie glaubte, dass ihr Sohn die Talente seines Vaters geerbt hatte, erschien ihr die Wahl dieser Schule logisch. Friedrich Wilhelm Argelander war einer der großen Gelehrten Bonns gewesen. Er hatte als erster Wissenschaftler die komplette Durchmusterung des Sternenhimmels vorgenommen. Carolin kannte an diesem Gymnasium außerdem einige Lehrer, insbesondere den jetzigen Klassenlehrer von Philipp, Herrn Brackmann, mit dem sie einen Teil ihrer Referendarzeit an einer anderen Schule verbracht hatte. Brackmann war dafür bekannt, dass er seine Schülerinnen und Schüler außerordentlich genau beobachtete, war sehr beliebt und galt als anspruchsvoller, gerechter und vor allem als überaus menschlicher Lehrer. Er war unverheiratet und engagierte sich besonders für seine Klasse und die Schule.
Manchmal, wenn persönliche Probleme eines Schülers einer intensiveren Besprechung bedurften, lud er ihn zu sich nach Hause ein. Es gab Kaffee oder Kakao und Kuchen und wenn Brackmann im Laufe des Gespräches den Eindruck gewonnen hatte, dass jetzt wieder alles im Lot war, pflegte er dem Schüler auf die Schulter zu klopfen und in jovial-väterlichen Ton zu sagen: „Und denk dran, du bist nicht nur zum Vergnügen hier!“
Das „hier“ war universell gemeint: Hier und jetzt, immer und in der Schule, im Leben und auf der ganzen Welt. Nach diesem Ritterschlag, der immer auch eine Absolution war, durften die Jungen und Mädchen wieder nach Hause gehen,
So wie viele andere, saß jetzt auch Philipp bei seinem Lehrer. Nicht nur wegen seiner schlechteren Noten, sondern auch wegen eines bestimmten Vorfalls in der Schule. Brackmann war allein stehend und lebte zusammen mit seiner Mutter im Elternhaus. Die Mutter wohnte im Souterrain, das Haus stand am Hang. Herr Brackmann betrat jetzt mit der gewünschten Limonade und ein paar Keksen das Wohnzimmer. Seiner Mutter ging es im Moment nicht gut und war deshalb nicht in der Lage gewesen, ihren allseits beliebten Kuchen zu backen. Der Lehrer hatte den Jungen kommen lassen, weil es vor ein paar Tagen auf dem Heimweg eine Auseinandersetzung zwischen Philipp und einigen Mitschülern gegeben hatte. Es war dabei um Regine gegangen, Brackmanns Nichte. Er wusste, dass die beiden befreundet waren, wobei Regine ihm anvertraut hatte, dass Philipp nicht ihr Typ sei. Der sei manchmal so komisch traurig und wortkarg und küsse so „kalt“, wie sie sich ausdrückte. Es ging Brackmann aber in erster Linie nicht um Regine, sondern um eine ganz bestimmte Reaktion von Philipp. Er wusste, dass Philipp Pazifist war und Gewalt ablehnte. Bei einer Auseinandersetzung mit ein paar Mitschülern, die ebenfalls ein Auge auf Regine geworfen hatten, hatte sich Philipp nicht gewehrt, sondern sich mit Fußtritten und Fauststößen traktieren lassen. Er schwor sogar von Regine ab, weil die anderen das von ihm verlangten. Daraufhin ließen sie ihn in Ruhe.
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