Diese Figur des Heiligen ist nun jener Archetyp, der das Prinzip der Gewissheit, der erlangten Gewissheit aufgrund einer persönlich gemachten Erfahrung mit denjenigen Inhalten, über die er gegebenenfalls dann noch spricht, symbolisiert. Der Heilige ist auch eine archetypische Figur, die im Unterschied zum Priester nichts von den Dingen hergibt, nicht über die Dinge spricht - von sich aus, d.h. wenn nicht danach gefragt wird. Der Priester auf der anderen Seite ist eher eine Figur, die, um es salopp auszudrücken, auch unaufgefordert spricht. Der auch aus einer inneren Euphorie heraus, möglicherweise bald Gott erreichen zu können, allen verkündet, dass das nun kurz bevorsteht. Das ist jetzt natürlich eine sehr stilistische und vereinfachte Beschreibung, aber im Prinzip denke ich trifft es den Kern der Sache.
Der Heilige, den kann man sich eher als einen Einsiedler vorstellen, der im Wald lebt oder in einem verlassenen, zurückgezogenen Kloster. Wobei Klöster selbstverständlich auch diese Zurückgezogenheit bieten, beziehungsweise symbolisieren. Und dort redet man nicht zur Welt, sondern wartet, bis ein Mensch aus der Welt zu einem kommt und gegebenenfalls um Hilfe oder um Ratschlag bittet. Der Priester auf der anderen Seite ist aber einer, der sich relativ in der Welt befindet, im Unterschied zu den Heiligen, die sich eher außerhalb der Ansiedlungen aufhalten. Der Priester wird also von sich aus ein entsprechendes Angebot an die Menschen haben. Und insofern ist die eigentliche Haltung den Menschen gegenüber auch eine sehr unterschiedliche. Der Priester geht auf die Menschen zu und fordert sie auf, ihm zu folgen. Der Heilige tut das aber nicht.
Insofern ist die Zurückgezogenheit desjenigen, den wir den Heiligen nennen, auch eine Konsequenz aus der Gewissheit, die er erlangt hat. Denn aus der Gewissheit heraus ist er sich darüber im Klaren geworden, dass man nicht auf den Menschen zugehen kann, um ihn ohne eigene Kraft dazu zu bringen, den jeweils richtigen Weg einzuschlagen. Sondern der Mensch muss aus sich selber heraus die Kraft entwickeln, den richtigen Weg zu finden. Und wenn auf diesem Wege ein sogenannter Heiliger steht, dann kann man den auch fragen. Aber der Heilige, der Gewissheit über die Lebensgesetze erlangt hat, wird sich nicht zu den Menschen hinbewegen und versuchen, diese von etwas zu überzeugen – eine typische Tätigkeit des Priesters – was richtig oder was falsch für sie wäre. Jeder muss, sagt der Heilige, seinen Weg aus sich, aus eigener Kraft heraus selbst finden.
All diese Unterscheidungen zwischen dem Fische-Prinzip, stellvertretend für den Heiligen, und des Schütze-Prinzips sind im Moment wichtig, um das Schütze-Prinzip genauer verstehen zu können. Insofern muss auch das Grundproblem des Schütze-betonten Menschen - mehr oder weniger ausgeprägt und häufig im Zustand der Verzweiflung zu leben - verständlich werden, einfach vor dem Hintergrund fehlender Gewissheit. Eine fehlende Gewissheit über die Gegebenheiten des Lebens muss früher oder später zur Verzweiflung führen, beziehungsweise muss dazu zwingen, ein Leben aus der Hoffnung heraus zu leben. Was wiederum dazu führt, dass man beginnt gläubig zu werden. Denn der Glaube - bzw. die Religion, die den Glauben umgibt - ist sozusagen die Verheißung in die Richtung, dass das Leiden ein Ende hat. Verzweiflung und das Leben aus der Hoffnung, wie auch das Entstehen des Glaubens, sind letzten Endes eine Analogiekette, die zum Schütze-Prinzip gehört.
Diese enorme Tiefe, die im Sinne der Verzweiflung im Schütze-Prinzip wartet, die können wir auch in einer mythologischen Geschichte widergespiegelt finden, die zum Schütze-Prinzip, hervorragend passt. Es ist die mythologische Geschichte von dem Zwitterwesen Chiron oder auch manchmal „Kairon“ genannt. Sie haben sicherlich auf bestimmten Bildern schon einmal diese Figur gesehen, die den Hinterkörper eines Pferdes besitzt und ab dem Hals menschlich aussieht - ein menschlicher Rumpf mit einem entsprechenden Kopf und menschlichen Armen. Diese Zwitterfigur - hinten Pferd, das heißt Tier und vorne Mensch - trägt meistens noch einen Pfeil in der Hand, der brennt und nach oben gerichtet ist. Diese Figur kann man einerseits unterscheiden in die hintere Hälfte, das tierisch-animalische, und das Vordere, das Menschliche. Oder wenn man das anders, auf einer höheren Ebene sehen will, dann ist der animalische Teil eigentlich das Menschliche und der vordere Teil das Göttliche. Aber es bleibt, dass dieses Wesen ein Zwitterwesen ist. Und Chiron ist in der Überlieferung ein sehr gutmütiges und freundliches Wesen, was durchaus auch dem Schütze-Prinzip entspricht.
Auch in dieser Geschichte gibt es einen Helden, den bekannten Herakles bzw. Herkules. Dieser Held wurde wieder einmal beauftragt, irgendein, neudeutsch gesagt, Monster zu töten. Und dieses Monster, dieses Ungetüm, ist der sogenannte erimantische Eber, also ein überdimensionales Wildschwein, das in der entsprechenden Umgebung dort sein Unwesen treibt. Und Herakles in seinem Übermut sagt natürlich, es ist gar kein Problem, ich habe ein großes Schwert und mit dem werde ich dieses Ungetüm töten können. Chiron ist allerdings der Meinung, dass das ein wirklich heftiger und schwerer Gegner ist, und stellt sich als Hilfe zur Verfügung. Und zwar in dem Sinne, als er sagt, ich bin in der Lage, Gift zu mischen, und zwar ein Gift, was diesen Eber töten kann.
Chiron mischt dieses Gift und die Pfeile, die er zum Jagen benutzt, vergiftet er mit diesem Gift. Dann gehen die beiden auf die Jagd nach dem Eber. Auch Herakles benutzt die Pfeile von Chiron. Und man stelle sich das so vor, dass die beiden auf der Jagd sind - der eine geht den Weg, der andere geht den Weg. Und plötzlich raschelt es irgendwo im Gebüsch, und Herakles denkt sich, oh, da ist jetzt das Ungetüm. Er holt seinen Pfeil heraus und schießt in das Gebüsch hinein. Aber es war nicht der Eber, sondern es war Chiron. Chiron wird von seinem eigenen Pfeil, von seinem eigenen Gift verwundet, und bezeichnenderweise auch in der Hüfte getroffen. Denn bis heute steht das Schütze-Prinzip auf der körperlichen Ebene im astromedizinischen Sinne für die Hüfte, unter anderem für die Hüfte. Chiron wird in die Hüfte getroffen. Und jetzt beginnt das eigentliche Drama, denn Chiron ist eine Zwitterfigur, die einerseits menschliche Züge hat - das heißt sie kann leiden und Schmerz empfinden - und ist dazu verdammt, Qualen zu erleiden.
Auf der anderen Seite ist diese Figur aber auch göttlicher Abstammung. Das bedeutet, dass sie unsterblich ist. Und die Mischung von beidem stellt das eigentliche Drama jetzt dar - beziehungsweise stellt dieses Unendliche, diese unendliche Leidenssituation, die der Schütze dennoch beinhaltet, dar. Denn wenn man göttlicher Abstammung ist, ist man unsterblich. Wenn man allerdings unsterblich ist, gleichzeitig aber auch Höllenqualen erleidet, dann leidet man bis in alle Ewigkeit, da man nicht sterben kann.
Die Geschichte endet dann so, dass Chiron sich in eine Höhle zurückzieht. Viele der Dorfbewohner erlangen davon Kenntnis, dass Chiron in der Höhle sitzt, versuchen ihm zu helfen, aber das nützt alles nichts. Chiron mischt ein Gegengift - er versucht es zumindest - das ihm selber allerdings nichts hilft. Es gibt sogar Freiwillige aus dem Dorf, die sich mit dem Gift, mit dem eigentlichen Gift vergiften und dann das Gegengift benutzen. Und bei denen hilft das. Aber bei Chiron hilft es nicht. So endet die Geschichte, dass diese eigentlich sehr freundliche Figur, die nur aus Gutmütigkeit helfen wollte, ein fürchterliches Ende nimmt.
Kurz unter der Oberfläche des Schützen beginnt die Dunkelheit, die man normalerweise an der Oberfläche des Schützen, an seinem häufig relativ freundlichen und zugänglichen Antlitz nicht sieht. Es gibt noch eine zweite Figur, die sehr gut zum Schütze-Prinzip aus der griechischen Mythologie passt. Das ist die Figur des Prometheus. Prometheus ist derjenige, der den Göttern das Feuer stiehlt, um es den Menschen zu bringen. Denn er hat Mitleid mit den Menschen, weil diese so frieren. Weil sie eben kein Feuer zum Wärmen haben. Feuer, Wärme braucht man zum Leben, und Prometheus denkt sich, wenn die Götter den Menschen das Feuer vorenthalten, dann müssen die Menschen früher oder später alle sterben. Und das will er nicht.
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