Die Jungfrau stellt das Prinzip der Vernunft dar. Das muss kurz erläutert werden. Denn unter Vernunft verstehen wir – ich müsste aber besser sagen, verstehen wir bisher – einen in der Regel denkerischen oder geistigen Vorgang, der mit einer gewissen Denkleistung einhergeht. Der führt dazu, dass man eine bestimmte Handlungsweise an den Tag legt, die dann als vernünftig, weil absichtlich herbeigeführt, betrachtet wird. Das ist aber zumindest astrologisch gesehen, wenn man auf den Begriff Vernunft geht, eindeutig falsch. Nebenbei – die Herkunft des Wortes Vernunft deutet auch nicht darauf hin, dass es sich hier um einen bewussten Vorgang handelt; aber dazu gleich mehr.
Vernunft ist unbewusst, d.h. eine unbewusst ablaufende Reaktion. Vernunft hat nur den einen Zweck – und jetzt kommt wieder Originalton Jungfrau vom Anfang – Schaden abzuwenden. Vernunft oder vernünftig sein bedeutet sprachlich, dass man etwas getan hat, was dazu führt, dass man keinen größeren oder vielleicht sogar im besten Falle keinen Schaden nimmt. So etwas ist vernünftig. Wir müssen jetzt astrologisch lernen und begreifen, dass Vernunft kein denkerischer Akt ist, sondern eine seelische Ausgleichsfunktion. Ein seelischer Anpassungsmechanismus, der unbewusst und damit als Reaktion unbewusst im Sinne eines Reflexes abläuft. Das Wort „Vernunft“ kommt aus dem Althochdeutschen, und wenn man es von dort direkt in unser neues Deutsch übersetzen würde, dann würde Vernunft „Vernehmen“ bedeuten. Vernunft kommt von Vernehmen. Und Vernehmen ist die althochdeutsche Form von Wahrnehmen. Und da sind wir am Beginn des Jungfrau-Prinzips.
Wahrnehmung an sich, als ersten Akt der Jungfrau, also der aufmerksamen Betrachtung dem Leben gegenüber, schon das allein ist vernünftig. Es wäre nicht schlecht, sich das Leben anzuschauen und auf all das zu achten, was dem Leben Schaden zufügen könnte, während es wächst. Insofern achtet jede Mutter, achtet jeder Vater – so wollen wir es jedenfalls hoffen – auf das Kind, was heranwächst. Das ist im Menschen einprogrammiert, im Sinne des Jungfrau-Prinzips. In alten astrologischen Büchern - die zumindest was die Begriffe angeht, teilweise viel klarer als die heutigen, sehr psychologisierten Schriften waren - stand zum Beispiel bei der Jungfrau: Die Jungfrau ist Hege und Pflege. Ja, das ist schön. Das stimmt. Sie hegt und pflegt das Leben.
Dumm ist nur, dass das Leben ihr diese Arbeit, die existenziell wichtig ist, nicht lohnt. Denn welches Kind lässt sich schon gerne reinreden, beziehungsweise von welchem Kind kann man erwarten, dass es die Vernunft derjenigen hat, die weiterblicken können als es selber. Das geht natürlich nicht. Dennoch muss man sehen, wenn man jetzt mal nicht von dem Verhältnis von Kindern zu Eltern redet, sondern von Erwachsenen zu Erwachsenen, dass also ein sehr Jungfrau-betonter Mensch anderen - salopp gesagt – ziemlich auf den Wecker gehen kann. Dadurch das er sie ständig darauf hinweist, was alles schiefgehen könnte. Und wo man denn – Lieblingswort der Jungfrau – vorsichtig sein muss, das kann einem also ganz schön auf die Nerven gehen.
Vor allen Dingen, wenn der andere ein Löwe ist. Dann sagt der: Hör mal, ich möchte aber gerne ins Kino gehen, und ob ich gerade wenig Geld in der Tasche habe oder nicht, ist mir egal – ich will aber! Und die Jungfrau sagt: Nein, es wäre aber vernünftig, wenn du dieses Geld sparst, denn morgen musst du noch ein paar Brötchen und ein bisschen Butter kaufen. Wenn du heute ins Kino gehst, kannst du morgen nichts mehr essen. Aus der Sicht des Löwen wird dieses Argument sicher nicht ziehen. Das heißt er wird wohl alleine ins Kino gehen müssen, denn die Jungfrau bleibt ganz brav und artig zuhause und zählt die letzten Groschen, die noch übriggeblieben sind, nachdem sich der Löwe das Geld fürs Kino geschnappt hat. Und sie überlegt – kleinkariert, wie sie ist, daher passt zu ihr das Pepita-Muster - wie sie mit den letzten paar Groschen morgen für den Löwen ein entsprechendes Frühstück zusammenstellen kann. Alleine macht der das eh nicht, der ist es ja gewohnt, bedient zu werden.
Ich fasse an der Stelle noch einmal zusammen, was zur Jungfrau astrologisch im Kern zu wissen ist. Die Wahrnehmung ist der erste Schritt, und zwar im Sinne einer aufmerksamen Betrachtung des Lebens. Als zweites folgt die Analyse des Wahrgenommenen. Man muss wissen, worum es geht – wichtig für die Jungfrau. Als dritter Schritt geschieht die reflexartige Anpassung an das, was in der Analyse herausgekommen ist, beziehungsweise was als Neues erkannt worden ist. Diese reflexartige, unbewusste Reaktion, ist nichts anderes als pure Vernunft. Wenn die Jungfrau das Leben aufmerksam betrachten soll, dann bedeutet das aber auch, dass sie den Umständen, die im Leben auftauchen, ausgeliefert ist.
Sie muss ständig an einen ganz bestimmten Punkt hingucken. Wenn sie glaubt, dass dort jetzt etwas geschehen wird, was dem Leben Schaden zufügen könnte. Das bedeutet aber auch, dass sie alle anderen Bereiche, auf die sie nicht guckt, nicht betrachten kann. Das heißt die Jungfrau ist im Detail des Lebens gefangen. Sie hat auf keinen Fall Überblick, das geht nicht. Wenn sie irgendwo mit ihren Augen – und die Jungfrau ist im medizinischen Sinne auch das Augenpaar, als die wichtigsten Wahrnehmungsorgane des Menschen – wenn Sie auf einen bestimmten Punkt mit Ihren Augen hinschauen, zum Beispiel auf einen Krümel, der auf einem Tisch liegt, dann werden Sie sicherlich nicht in 90 Grad nach rechts oder links sehen. Und zum Beispiel nicht sehen, wie der Wellensittich gerade aus dem Käfig geflogen ist, weil Sie eben gerade nur diesen einen Krümel genau angucken. Den sehen Sie allerdings auch wirklich ganz genau. Und über den Krümel auf dem Tisch könnten Sie auch alles Mögliche erzählen. Die Frage ist, ob das jemanden interessiert, während der Wellensittich gerade aus dem Käfig fliegt. Aber immerhin – den Krümel, den kennen Sie genau. Und insofern ist die Jungfrau ins Detail verliebt, sie ist ein Detailfanatiker. Sie ist – und daher kommt auch ihr Ruf – pedantisch. Was sie nicht kann, ist, den Überblick zu haben. Aber das muss sie auch nicht können.
Den Überblick in dem Sinne, wie er jetzt gemeint ist, der entsteht eigentlich erst viel, viel, viel später im Tierkreis, eigentlich erst im vierten Quadranten. Da haben wir noch einen relativ weiten Weg vor uns, beziehungsweise unsere Jungfrau, die ihren Job ja ernst nimmt und auch sehr gut macht. Ab und zu sollte man ihr ein bisschen auf den Rücken hauen und sagen: Mensch, das hast du gut gemacht. Denn da die Jungfrau den Löwen schon in sich trägt, weiß sie durchaus ein bisschen - aber da muss sie drauf hingewiesen werden - was Stolz bedeutet. Und ein bisschen Stolz, ein bisschen Anerkennung für die schwere Aufgabe, die die Jungfrau hat, das hat sie verdient.
Stellen Sie sich mal vor, Sie müssen 24 Stunden lang mit einem Feldstecher auf der Wiese stehen und gucken, da kriegt man schon Augenschmerzen. Oder wird kurzsichtig oder ähnliches. Und dafür kann man der Jungfrau schon mal auf die Schulter klopfen und sagen: Mensch, das hast du toll gemacht. Und dann besinnt sich die Jungfrau vielleicht, dass sie den Löwen ein bisschen in sich trägt und ist dann doch ein bisschen erfreut. Normalerweise ist die Jungfrau sehr nüchtern und sehr spröde, weil sie viel zu tun hat. Und das ist ja auch alles furchtbar wichtig, was sie zu tun hat. Da bleibt nicht viel Platz fürs Lebendige. Also ein bisschen Lob für die Jungfrau, und dann sieht das Leben, zumindest für einen Moment, schon ganz anders aus.
In der nächsten Lektion werden wir uns wieder in einen neuen großen anderen Lebensbereich begeben, nämlich den dritten Quadranten, also in die geistige Ebene. Und dieser dritte Quadrant beginnt mit dem Waage-Prinzip, beziehungsweise dem Planeten Venus und dem 7. Feld.
Читать дальше