Zurück im Zillertal war in den Höfen und Gemeinden langsam das Begehren aufgekommen auch eine eigene Eisenbahn zu besitzen, eine Zillertalbahn, die Innsbruck mit Mayrhofen oder zumindest mit Zell am Ziller verbinden sollte.
Auch Franz hatte sich für die Eisenbahn begeistert.
Doch immer wieder gab es Verzögerungen. Wer wollte schon in dieser entlegenen Gegend Kapital investierten und Geld für Lokomotiven, Gleise, Stellwärter, Lokführer und einen Eisenbahndirektor ausgeben.
Noch war die Natur kein mächtiger Verkaufsschlager.
Der Personenverkehr brauchte den Gütertransport, um rentabel arbeiten zu können und das ferne Wien hatte seine Alpenquerung über den Semmering.
Gewiss es gab schon einige Professoren und andere wohlhabende Bewunderer der grandiosen Bergwelt, die im Sommer für einige Tage Quartier im Gasthof nahmen.
Es hätte ein gutes Zubrot gegeben, diese feinen Herrschaften hinauf in die Berge zu führen. Diese Führungen waren aber eher etwas für seinen jüngeren Bruder und für die anderen lustigen Burschen aus dem Tal.
Nein, ein gutes Geschäft war das nicht. Die Akademiker liebten doch zu sehr ihren Komfort und selten kam einer das andere Jahr wieder.
Wer kam, das war eine ganz andere Sorte Mensch. Jung, wild und ausgelassen. Die neue stolze Metropole des nur wenige Jahre alten zentraleuropäischen Welt- und Kaiserreiches hatte sie hierin und bis in die hintersten Winkel der Hochalpen gespült. Wenige nur, aber dafür waren sie um so lauter, so fürchterlich arrogant und so erbärmlich unerfahren.
"Hier bauen wir unsere Streckenspots mit Food Stores und Schlafräumen."
"Flanierstrecken, heute mal nicht unter den Linden in Berlin, sondern heute über die Hauptkämme der Alpen."
Anders als die Professoren und Aristokraten spülten sie ihre Reichsmark über die Tresen, bauten, wie konnte sie auch anders heißen, die Berliner Hütte und rannten die Berge hoch.
Auch in ihrer Verzweiflung wurden sie nicht kleinlaut.
"Ruft das ganze Dorf zusammen, es gibt da einige Probleme mit unseren Kameraden dort oben im Berg."
Natürlich waren die Burschen im Tal erfahren in der Rettung aus dem Hochgebirge. Es war lange Tradition, das Schicksal hatte sich eingespielt. Wo brauche es da noch Worte. Man ging hoch, tat seine Pflicht, brachte den Verletzten zu seiner Familie und ging, so hatte man es immer gehalten, ganz normal weiter zurück zu seinem Tagewerk.
Bei diesen Kronprinzen des reichen Berliner Bürgertums mussten die Regeln natürlich ganz anders lauten.
Geschichte, Ahnen, Tradition, ein persönliches Verhältnis zwischen Opfer und Retter. Äh? Was soll das?
"Wir bezahlen für den Bau der Schutzhütten. Wir bezahlen für Kost, Logis und Wein. Und natürlich bezahlen wir auch für die Tage, an denen wir euch brauchen. "
"Diese Hinterwäldler sind auch noch so undankbar."
Nur widerwillig beteiligte sich Franz an den leider immer wieder zu oft erforderlichen Rettungstouren.
Da half er lieber der Mutter beim Milchvieh und in der Käserei. Ja bei der Almwirtschaft, beim Zusammensein mit Kühen und Schafen, da fühlte er sich zufrieden. Ja, das war seine Welt, die Arbeit mit der Milch, das Buttern und die lange Reifung der Laibe in den sauber aufgestellten Holzregalen im Keller ihres Berghofes.
Der Vater war schon früh gestorben. Franz war noch ein kleiner Bub. Nach einem sehr harten Winter waren die Wege und Verschläge oben in der Bergklamm wieder mal marode und brüchig geworden. Sein Vater hatte die Gruppe angeführt und sie begannen bereits, die Stege neu zu sichern.
Bei diesen Arbeiten war seine Mutter immer schon sehr besorgt und unruhig gewesen.
Zu oft hatte es in der Familie bei dieser gefährlichen Arbeit Unfälle und einmal sogar einen Toten gegeben.
So wurde es zu ihrer Gewohnheit, sich während der ganzen Zeit, in die Gottesecke in der guten Stube zurückzuziehen.
Sie wollte und konnte es nicht mit ansehen, ob und wie ein neues Schicksal die Dorfgemeinschaft traf.
So hatte auch diesmal die Mutter die ganze Zeit kniend vor dem Kreuz gebetet.
Neugierig war sie dann aber doch schon.
Laut rief sie nach Franz, der zusammen mit den anderen Frauen und Jugendlichen von Ende des Dorfweges die Arbeit oben im Berg beobachtete.
"Sind sie bald fertig, haben sie die Obere Zwing schon verbaut?"
Die Obere Zwing war die gefährlichste Stelle, danach dürfte eigentlich nicht Dramatischeres mehr geschehen.
"Ja, sie sind bei der Oberen Zwing durch."
Mehre Male hatte nun schon Franz den letzten Stand der Arbeit berichtet. Immer wieder, der Mutter gehorchend, hatte er die beobachtende und wartende Gruppe verlassen, war dem Ruf der Mutter gefolgt und so schnell, wie er nur laufen konnte, den Dorfweg das eine Mal hinauf, und dann das andere Mal hinab gerannt.
Jetzt war er richtig außer Atem. Bald würden die Männer zurückkommen und die erfolgreiche Tätigkeit mit einem guten Schluck feiern. Franz lief zurück zum Ende des Dorfweges.
Entsetzen hatte sich breitgemacht. Ein falscher Tritt, ein lockeres Stück Fels, ein Steinschlag. Der Vater konnte sich nicht mehr halten, er stürzte in die Tiefe, schlug auf dem harten Berg auf und alle Bemühungen den Vater zu retten, waren vergebens.
Nun waren sie nur noch zu dritt. Franz übernahm die Rolle seines Vaters, dessen Hobby bereits ja auch schon die Arbeit mit ihren Kühen gewesen war. Der Vater hatte ihn so viele Dinge über Milch und Käse beigebracht, sodass er nun alles verfeinern und verbessern konnte.
Nur mit dem Vertrieb klappte es nicht so recht. Auch für die anderen Bergbauern war es der Bergkäse und die Butter, das was sie anbieten konnten.
Aber wer sollte das alles kaufen? Sie organisierten sich und versuchten es in Innsbruck, Jenbach, Strass und Wörgl.
Aber sie waren nicht die Einzigen, das Angebot war einfach zu groß.
In Zillertal waren jetzt, auch hier und da, vereinzelt Sommergenießer zu sehen.
Die Eisenbahn machte es möglich. Nun schon über drei Jahrzehnte verband dieses moderne und schnelle Verkehrssystem Tirol und Innsbruck mit Kufstein, mit dem bayrischen Ausland und seiner Hauptstadt München.
Heuer hatte eine Künstlergruppe das Zillertal gefunden. Sie kamen aus München, der großen süddeutschen Metropole im neuen Deutschen Kaiserreich.
Ihre Gemälde zeichneten die Sehnsucht nach einer großartigen Vergangenheit, der Liebe zur Natur und dem Leben in bäuerlicher Umgebung.
Augenblicke und Momentaufnahmen, die die ländlichen Gebiete mit ihren saftigen Hügeln darstellten und die, als Kulisse, eine Fernsicht auf die Voralpen zeigte.
Jetzt, wo es so bequem war, einfach und schnell, selbst in die Alpen zu reisen, waren sie in die Bergwelt hinaufgefahren und hatten begonnen, die Berggemeinden mit ihren Gehöften und Bergseen der Hochgebirge zum Sujet ihrer Werke zu machen.
Die Bilder dieser Malerriegen aus München trafen auf den Geist der Zeit und avancierten sehr schnell zu Statussymbolen der neuen wohlhabenden Bürgerschicht.
Eigentlich wollte die Gruppe nur ein oder zwei Tage bleiben.
Doch man freundete sich an, an Motiven mangelte es ja wahrlich nicht, und so blieben die Künstler einige Wochen.
Franz fand schnell Gefallen an den Kompositionen aus Farbe, lebendem Hintergrund und der Fantasie der Burschen, die diese Werke schufen.
So wie er die Natur auf sich wirken ließ, so fühlte und betrachtete Franz nun auch die Details und den Fortschritt der Pinselstriche.
Was waren das für Charaktere, die aus einer leeren Leinwand die Illusion einer realen Natur schufen.
Menschlich waren sie so verschieden, es war angenehm unter ihnen zu sein.
Und sie kannten sich aus, in der großen weiten Welt.
München musste ein Rausch von Chancen und Perspektiven sein.
Ein Ort voller Lebenslust mit einer wahrhaft grandiosen Mischung aus Leistung und Vergnügen.
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