„Nemmersdorf?“, fragte Piotr.
„Nemmersdorf.“ So demütig hatte ich Vater noch nie erlebt.
„Dann waren das doch keine Gerüchte? Es wirklich passiert?“ Piotrs Fragen waren rhetorisch. „Diese Schweine. Das keine Männer, das Abschaum. Wie konnte kleines Frauchen das überleben.“
„Ein russischer Kommandant muss dem Spuk wohl ein Ende bereitet haben, nachdem seine Männer schon die halbe Nacht die Frau auf brutal Weise vergewaltigt hatten. Das hat jedenfalls die alte Ida erzählt. Sie selbst und die Kinder befanden sich in einem Versteck im Keller, in einem geheimen Raum, den Idas Mann - Gott hab ihn selig - schon im Ersten Weltkrieg vorsorglich angelegt hatte.“
Ich hatte genug gehört, wollte nur noch weg, drehte mich um und stieß mit Jan zusammen. Er nahm mich in Anwesenheit meines Vaters tröstend in die Arme und sagte leise: „Keine Angst. Dir werden nix passieren. Ich dich immer beschützen.“
„Jan!“, bellte Vater im Kasernenhofton und brachte uns beide somit zur Vernunft.
„Ihr versteht nicht“, versuchte ich mich zu rechtfertigen. „Bernhard und Jacob, meinen kleinen Brüder, sind mittendrin. Sie müssen jeden Tag diese schrecklichen Bilder sehen. Und sie sind nicht einmal zwanzig.“
„Die werden schon auf sich aufzupassen wissen. Übrigens –das hätte ich in der Aufregung beinahe ganz vergessen - ich habe Briefe von den beiden mitgebracht. Sie kommen zu Weihnachten nach Hause, Fronturlaub. Die Briefe liegen auf dem Sekretär in der guten Stube. Geh rein, und lies selbst!“
Das musste man mir nicht zweimal sagen. Ich löste mich von der kleinen Gruppe und stürmte förmlich die Stufen zur Eingangstür hoch.
Spät am Abend saßen wir noch am Küchentisch und lauschten entsetzt Idas Bericht. Außer mir durften noch Hans und Else anwesend sein, als uns das Schreckensszenario in Nemmersdorf geschildert wurde: Die Hauptstraße, die zur einzig nennenswerten Brücke in der Gegend über den Angerapp führte, war verstopft mit Flüchtlingen. In Windeseile hatten sie ihre Habseligkeiten auf Treckwagen - und alles was sich ziehen oder schieben ließ - verfrachtet, als die Hölle an jenem 21. Oktober über sie hereinbrach. Gnadenlos zermalmten die Ketten russischer Panzer alles und jeden, der sich ihnen in den Weg gestellt hatte – oder besser gesagt: Wer nicht rechtzeitig fliehen konnte. Doch auch in den umliegenden Häusern gab es keine Sicherheit. Nachdem die Panzer gleich dreimal den Treck überrollt und anschließend die Brücke gesichert hatten, nahm man sich ausgiebig Zeit, Frauen, Kinder und Alte langsam zu Tode zu meucheln. Den wenigsten wäre ein Gnadenschuss zuteil geworden.
Wie sollte man ein solches Martyrium verkraften, wie die schrecklichen Bilder jemals aus dem Kopf bekommen?
Charlotte und ihre Kinder schliefen schon tief und fest, da Mutter ihnen einen Tee aus Baldrian, Hopfen und Johanniskraut, versehen mit einem kräftigen Schuss „Melissengeist“ eingeflößt hatte. Und auch ich würde mich wohl später dieses Schlaftrunks bemächtigen müssen, wollte ich in der Nacht nicht von Alpträumen geplagt werden. Allein Idas Schilderung versetzte mich in Angst und Schrecken. Ein solches Schicksal zu ertragen, es zu überleben, - für mich unvorstellbar!
Dennoch war alles bitter grausame Realität gewesen: Wer auf der Stelle erschossen wurde, hatte noch Glück gehabt. Andere, besonders Frauen und junge Mädchen wurden bestialisch gefoltert, so dass der Tod eine Gnade darstellte. Wir hörten zu im Bann des Schreckens, unfähig die Botschaft ihrer Worte zu begreifen. Doch erst als Ida erzählte, sie hätten bei der Flucht die Leichen von Kleinkindern gesehen, denen man mit einem Spaten oder Beil den Kopf gespalten hatte, schrie ich vor Entsetzen auf und verließ fluchtartig den Raum. Meine Geschwister taten es mir gleich.
Ich rannte hinaus auf den Hof und schlang die Arme um meinen Leib, um dem Zittern und Beben Einhalt zu gebieten. Doch vergebens! Dann ließ ich im Schutz der Dunkelheit meinen Tränen freien Lauf und betete inbrünstig mit Blick gen Himmel: Lieber Gott, steh uns bei! Lösche die schlimmen Bilder aus den Köpfen von Stefan und Paul! Lass Charlotte alles vergessen, was ihr widerfahren war, und beschütze uns vor den Russen, auf dass sie nie wieder in Masuren einfallen werden. Bitte hilf uns! Lass uns nicht im Stich. Ich verspreche dir auch, nie wieder mit Jan zu sündigen. Amen.
Nach fast einer kleinen Ewigkeit, wie es mir erschien, begab ich mich ins Haus zurück. Ein Hoffnungsschimmer keimte in mir auf. Unsere tapferen Jungs an der Front hatten schon einmal die Rote Armee zurückgedrängt. Sie würden uns auch ein zweites Mal nicht im Stich lassen. Wenn Bernhard und Jacob zu Weihnachten nach Hause kämen, wollte ich sie befragen. Ihre Einschätzung der Lage war selbst Vater heilig, wurden doch beide schon ausgezeichnet wegen Tapferkeit vor dem Feind; Bernhard trug sogar das Eiserne Kreuz. Den Ratschlag dieser beiden Jungens, gerade achtzehn und neunzehn Jahre alt, würden, nein, mussten wir befolgen.
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