Es klopft an der Tür. Wie bitte? Seit wann wird man in einer Videokabine gestört? Vor der Tür steht eine Person und will hinein. Es klopft noch einmal. Ich verstaue schnell meine Sachen und öffne.
„Guten Tag.“
„Bitte?“
Eine magere Rentner in blickt mir ins Gesicht. „Dürfte ich hier schnell einmal durch?“
„Durch?“
Durch was will Mutti bitte durch? Das hier ist eine Videokabine mit einem großen Sessel, auf dem man Platz nimmt, um Pornofilme zu gucken.
„Dürfte ich schnell einmal durch?“
Es ist nicht zu glauben. Die Alte zwängt sich zu mir in die Kabine. Das, obwohl es ausdrücklich verboten ist, eine solche Kabine zu zweit aufzusuchen.
„Ich erledige nur meine Arbeit. Sie können ja gleich weitermachen.“
„Weitermachen?“
Die Alte entgegnet nichts und fährt mit ihrem nassen Lappen einmal über den Boden und unter die Stuhllehnen. Dann wringt sie den Lappen über einem Eimer aus und schmeißt ihn noch einmal auf den Boden. Mit Fensterputzmittel sprüht sie den Bildschirm ein und rubbelt alles mit einem Einmaltuch ab. Ihre Augen verharren auf den Bedienungsknöpfen unter dem Fernseher. Mit ihren langen Fingernägeln kratzt sie etwas Dreck ab. Sie betrachtet sich den Finger und wischt ihn an ihrer Schürze ab. E-k-e-l-h-a-f-t.
Ich sehe auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Ich muss zurück. Zurück zu Schmidt. Ich muss die heiligen Hallen der Pornoindustrie verlassen, um zu einem dicken schwitzenden Ungetüm zurückzukehren. Das darf nicht wahr sein. In jeder zivilisierten Gesellschaft würde man mich ins Irrenhaus sperren oder erschießen.
Ich lasse Mama stehen und eile mit der üblichen Ich-komme-gerade-aus-dem-Pornokino-aber-eigentüch-bin-ich-ein-total-seriöser-Typ-Miene ins Freie. Statt nackten Blondinen habe ich einen Staubwedel und eine Oma im Kopf. Bin ich dafür in den Sexshop gegangen? Ich sollte mein Geld zurück verlangen. Mit dem Taxi fahre ich zurück ins Büro. An meinem Schreibtisch mache ich um 13 Uhr 12 Kassensturz. Die Kosten für die Mittagspause belaufen sich auf 53 Mark und 40 Pfennig.
Wir haben heute wieder Wetter, Wetter, Wetter. (Die Wochenshow)
Es gibt Tage, an denen nichts funktioniert. Alles geht schief. Wo man auch rumhört, überall nur Unglücke, Schweiß und Tränen. Ich habe mir einen kleinen Kreis von Freunden herangezogen, mit dem ich regelmäßig telefoniere. Zum Beispiel dienstags. Der Dienstag ist ein Tag, an dem immer viele schreckliche, unschöne Dinge passieren. Die Leute sind fertig. Sie sind gestresst, bekommen die Rechnungen vom Montag, stolpern, haben Ärger mit der Bank, mit den Kollegen undsoweiter. Studenten stürzen sich aus den Fenstern der Studentenheime, Mitten-im-Leben- Stehende springen von Parkdecks, Rentner kippen sich in die Gleisanlagen. Je genauer man hinsieht und herumhört, desto furchtbarer sind die Hiobsbotschaften. Der Dienstag ist der schlimmste Tag der Woche. Ich telefoniere.
Bei Manfred hat sich der Teufel seit Wochen eingerichtet. Frau weg, Kind noch da, Steuernachzahlung fällig. Fünfundzwanzig Minuten erzählt er mir von seinen Ängsten und Problemen. Dem Abwasch, der kaum zu bewältigen ist, der Philosophie, dass doch eigentlich nur die Liebe zählt. Ich nicke und sage alle zwanzig Sekunden: „Ja, natürlich, du hast ja recht.“ Dann das mit seiner Frau. „Wir haben uns nur verletzt. Erst ich sie, dann hat sie mich zurück verletzt.“ Manfred beschreibt den täglichen Psychokram als ein blutiges Duell. Verletzt. Zurück verletzt. Verletzt. Wieder zurück verletzt. Dann ist er zur Freundin seiner Frau gegangen, um sich auszuheulen. Ja, sicher, das mögen die Frauen nicht. Was soll er denn nur machen? Wie wird er mit dem ganzen Zeug fertig? Es könnte schon sein, dass sie gerade jetzt durchklingeln will, gebe ich zu bedenken.
„Meinst du wirklich?“
„Ja, klar. Jede Minute, die wir länger sprechen...“
Kurz nachdem ich aufgelegt habe, ist Meike am Apparat.
„Hallo Peter. Wie geht’s?“
„Danke, alles okay.“
Dann geht es los. Meike wird in der Firma gemoppt und bricht in Tränen aus. Was für eine Vorstellung. Sie wimmert, schluckt und prustet, dass es mir fast den Hörer aus der Hand schlägt. Was für ein Unwetter. Da ist die ältere Kollegin, die sie mit dem Arsch nicht anguckt, der Chef, der sie zu Überstunden zwingt und immer „Mädchen, Mädchen“ sagt, die Herren, die mit Zoten den Tag beginnen und ihr gerne den Arbeitsplatz - vor allem die gigantische Schlumpfsammlung auf dem Monitor - durcheinander bringen. Freunde findet Meike auch nicht. Sie meint, es läge am Beruf. Sie ist Junior Sales Managerin.
„Beim Beruf kommt es immer zum Stocken. Ich sage, dass ich Konzepte erarbeite und so. Fertig. Der Typ findet dann einfach keinen Anknüpfungspunkt. Konzepte, fragt er nach. Ja, Konzepte, brülle ich ihn an und versuche eine schicke Definition dessen, was ich den ganzen Tag hinter meinem Schreibtisch tue. Schreibtisch? Ja, Schreibtisch. Businesspläne am Computer, wissen Sie? Businesspläne? Ja, Businesspläne. Das war’s dann. Finito. Oh, verdammte Scheiße. Was soll ich nur machen? Auch Mami kann es nicht verstehen. Weißt du, wie bitter das ist? Deine eigene Mutter denkt, dass du hinter einem Schreibtisch die Fingernägel polierst und die Zeit totschlägt. Dabei sitzt du elf Stunden und entwirfst Businesspläne. Businesspläne? Kindchen, wann bist du denn mit dem Studium fertig und startest ins Berufsleben? Ich bin im Berufsleben! Ja, ja, sicher, aber wann arbeitest du denn richtig? Für Mami bin ich praktisch arbeitslos.“
Nach einer Dreiviertelstunde ist Meike fertig, gluckst einmal tapfer und legt auf. Meine Bad-News-Agency läuft prächtig. Vorige Woche hatte ich noch Meikes Freundin Katja am Apparat. Drei Stunden hat sie mir ihre Probleme erzählt. Ein Epos, das verfilmt werden sollte. Ich wollte ihr zur Kündigung raten, aber das würde Katja am Vormittag niemals akzeptieren. Katja am Abend findet ihr Leben selbstverständlich Scheiße, träumt vom starken Macker aus ihrer früheren Schule und sehnt sich nach der großen Liebe. Sie redet wie ein Teenager. Doch am nächsten Morgen ist aus Katja am Abend das Monster Katja am Vormittag geworden, das unbedingt viel Geld verdienen will und sich auf Konferenzen so konservativ gibt, dass man kotzen könnte.
Ich gehe zum Fenster und sehe auf die Straße. Es regnet in Strömen. Schon seit Wochen regnet es. Das Wasser drückt auf die Stimmung. Wer nicht traurig vor sich hin starrt, kämpft mit großen Wasserflecken an der Decke oder plötzlichen Überschwemmungen im Keller. Wer heiß baden will, dem haut es zum Dank die Sicherung vom Durchlauferhitzer raus. Vor der Haustür geht das Drama weiter. Noch Stunden nach den Schauern fallen von den Bäumen dicke Tropfen. Kein Wunder, wenn die Menschen durchdrehen. Hat denn niemand dem lieben Gott erzählt, dass seine in aller Eile zusammengebastelten Geschöpfe Sonne brauchen? Sie brauchen Sonne, 20 Grad und etwas Wind. Doch es schifft wie aus Kübeln. Alle sitzen zu Hause, gepeinigt von Ängsten und Problemen. Die einen sitzen im Trainingsanzug auf ihren zehn Jahre alten Umzugskisten, die anderen kämpfen mit Schimmelsprays um das letzte Stück Würde beim Wohnen. Wie lange soll das noch so gehen? Bald werden die ersten verrückt werden. Die, die Arbeit haben, trösten sich mit ihren Kontoständen und dem TUI-Katalog. Aber was ist mit den anderen? Werden sie durchhalten können? Hat das Fernsehen genug Kraft, um ihre Wut im Zaum zu halten? Man müsste etwas ändern. Irgendwas. Ich denke an den vergangenen Montag im Supermarkt. Nachdem ich eine Buttermilch und einen linksdrehenden Joghurt einfach auf den Boden geklatscht hatte, stieg in mir der Hass hoch. Der Hass auf diese blöde, nur mit dem Einkaufen beschäftigte Gesellschaft. Zur Strafe packte ich die toten Milchprodukte zurück in das Kühlregal und machte mich nur mit einer Dose Cola unterm Arm auf den Weg nach Hause. Mit grimmiger Miene bestieg ich die U-Bahn und sah plötzlich klar. Es musste etwas passieren. Es fehlte jemand, der die anderen erlöste. Jetzt. Auf der Stelle.
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