Nach der morgendlichen Routine mache ich mich auf den Weg in das Büro der Reiseagentur, für die ich tätig bin. Mit den mager bezahlten Büroarbeiten, die auch in der Nebensaison zu genüge bei uns anfallen, kann ich mich immerhin über Wasser halten. Nachdem ich endlich den Kampf durch das Verkehrschaos in Luxor gewonnen habe, werde ich schon beim Betreten des altmodisch eingerichteten Büros herzlich von Annabel begrüßt.
„Sabbah il cher!“, ruft sie mir mit einem breiten Lachen im Gesicht und einem Augenzwinkern zu.
„Sabbah il cher, danke. Mein Morgen war aber eher erschreckend als gut. Sag mal ehrlich, wer hatte die Idee?“
Annabel schaut mich unschuldig an. Sie kann tatsächlich gut schauspielern.
„Was meinst du denn?“, fragt sie mich dann.
„Du weißt genau, was ich meine! Wer von euch war das? Das war doch wieder eine Anspielung auf diese Sache damals auf dem Basar. Niemand sonst war mit in dem Laden und ich habe auch niemandem davon erzählt. Das heißt, dass du irgendwie damit zu tun haben musst. Also tu bitte nicht so, als wüsstest du von nichts! Ich finde daran nichts lustig. Es ist nicht lustig!!! Also lass es einfach bleiben, mich damit irgendwie zu ärgern.“
„Ok. Ich habe zwar immer noch keinen blassen Schimmer, wovon du gerade redest, aber gut.“ Ein bisschen eingeschnappt, so kommt es mir jedenfalls vor, dreht sich meine Freundin von mir weg.
„Der Spiegel Annabel!!! Ich rede von heute Morgen, die Zeichen auf dem Spiegel!“
Spätestens jetzt hätte ich erwartet, dass meine beste Freundin in lautes Gelächter ausbricht und mir versöhnlich um den Hals fällt. Aber nichts von alledem passiert. Stattdessen dreht sie sich mit bitterernster Miene zu mir um.
„Jetzt hör mir mal zu. Ich habe keine Ahnung, ich sag’s nochmal: KEINE AHNUNG, wovon du redest! Wenn du dich wieder ein bisschen beruhigt hast, dann würde ich wirklich gerne hören, was dir heute passiert ist. Aber hör bitte mit diesen ganzen Beschuldigungen auf. Das tut mir nämlich echt weh, dass du mir irgendwelche miesen Scherze zutraust. Ich bin deine Freundin, klar?“
Da war es wieder, DAS Wort: Klar. Mir dämmert allmählich, dass Annabel tatsächlich nicht weiß, worum es hier eigentlich geht.
„Tut mir Leid“, lenke ich dann meinen Irrtum ein, „aber wenn du nichts damit zu tun hast, wer…“
„Womit, Joanna, womit habe ich nichts zu tun?“
Wir setzen uns in die beiden Sessel, die eigentlich für Kunden gedacht wären, befänden sich welche hier. Da sich aber auch heute, wie seit vielen Tagen, kein Tourist in unser kleines Büro verirrt, nehmen wir hier wohl keinem den Platz weg. Während ich ihr meine morgendlichen Erlebnisse berichte, ist sie ganz still und schaut mich aufmerksam an. Zwischendurch nickt sie zustimmend und ergänzt dies mit einem kurzen „aha“ oder „hm“.
Als ich schließlich fertig bin, starren wir uns beide zunächst wortlos an. Verlegen nehme ich einen Schluck Wasser aus dem Glas, das seit gestern auf dem kleinen Tisch steht. Ich hatte es mir eingegossen, dann aber doch nicht getrunken. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Warmes Wasser schmeckt echt… scheußlich!
Endlich bricht Annabel die Stille: „Also gut! Ich sag dir jetzt auch mal was.“
Ich möchte schnell noch etwas erwidern, ihr sagen, dass mir bewusst ist, wie verrückt und schwachsinnig das alles für sie klingen muss. Aber Annabel drückt ihren Zeigefinger auf meinen Mund.
„Nein, hör zu! Wenn ich dich nicht kennen würde, dann müsste ich dir wohl anraten, einen Arzt aufzusuchen. Aber ich weiß, dass du eigentlich nicht der Typ für Hokuspokus bist. Und ich habe dich auch noch nicht halluzinieren sehen. Deshalb glaube ich dir jetzt mal. Ich denke nicht, dass da übernatürliche Kräfte am Werk sind, klar? Aber irgendjemand verarscht dich da. Und niemand verarscht meine Joanna!“
„Annabel, du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin. Ich dachte schon, du lässt mich sofort in die Klapsmühle einweisen.“
Sie schüttelt den Kopf. Mit einem warmen Lächeln fasst sie mir an die linke Schulter. Dann wendet sie sich ab.
Nun muss sich der Wächter tatsächlich beeilen. Die Zeremonie hat bereits begonnen und eigentlich hatte er die Aufgabe erhalten, noch zuvor seinen Mitstreitern Bericht zu erstatten. Dafür wird es jetzt sicher zu spät sein. Aber hinterher bleibt dafür noch genug Zeit.
Er eilt die vielen Stufen hinunter, die tief unter die Mauern der Stadt Luxor führen und zu einem riesigen Tunnel- und Höhlensystem gehören. Endlich hat er ihr Ende erreicht und der Weg durch die vielen kleinen Räume kommt ihm heute besonders kurz vor. Noch immer fühlt er sich beschwingter und endlich wieder ein bisschen hoffnungsvoll.
Noch um die eine Ecke und dann hat er sie erreicht, die Eingangstür zu dem Vorraum, in dem er sich auch heute wieder umziehen und vorbereiten wird. Er stemmt sich mit einem angestrengten Ächzen gegen die massive Holztür und tritt dann erleichtert und einem tiefen Atemzug nehmend ein. Die Luft in diesem Zimmer wäre jedem anderen muffig und sicherlich unangenehm vorgekommen, doch für ihn bedeutet sie Sicherheit und im gewissen Sinne schon ein wenig Zuhause.
Der mit seinen dreißig Jahren noch junge Mann zieht sich aus und legt seine feinsäuberlich gefalteten Kleider in sein Fach, welches gemeinsam mit fast einhundert anderen in die Wand gehauen wurde. Die Fächer seiner Gefährten sind bereits gefüllt. Er tritt vor den alten Spiegel und betrachtet sich kurz. Noch immer ist sein Körper gut in Form und das Tattoo, welches seinen ganzen Körper ziert, unterstreicht seine perfekt trainierten Muskeln. Doch er hat nun nicht genügend Zeit, sich mit Eitelkeiten aufzuhalten. Deshalb greift er rasch zu seinem schwarzen Umhang und schnürt ihn geschickt um seine schlanke Hüfte.
Mit weniger Verspätung, als er befürchtet hatte, schleicht er sich durch die Menge, die um ein Podest versammelt steht. Alle starren wie gebannt in die Mitte des spärlich beleuchteten unterirdischen Saales. Nur ein paar Kerzen spenden dem Priester auf dem Podest Licht, während dieser die Opfergaben positioniert.
Bald wird dieses Podest nicht mehr unberührt bleiben, denkt der Wächter bei sich, als sich der Priester zur Menge gesellt um dabei weiterhin die traditionellen Formeln zu sprechen, welche in seiner Familie seit Generationen den Nachkommen gelehrt werden.
Bald wird ER die Gaben nehmen und sich damit für diese schweren Aufgaben stärken.
„Lass uns mal logisch an die ganze Sache rangehen!“, fährt Annabel dann fort. „Wem hast du alles von der Geschichte in dem Shop erzählt?“
„Niemandem. Annabel ich schwör’s dir! Niemand außer dir weiß davon. Deshalb dachte ich doch, dass du…“
„Gut. Ich habe aber nun auch niemanden eingeweiht. Deshalb stellt sich mir nun die Frage, wer nur davon wissen kann. Der Ladenbesitzer? Aber wieso sollte er das tun? Und woher sollte er überhaupt deine Adresse haben?“
Annabel kratzt sich nachdenklich am Kopf und runzelt die Stirn. Immer wenn sie über wirklich wichtige oder extrem schwierige Dinge nachdenkt, macht sie das. Dann schaut sie auf und sieht mir direkt in die Augen. Dabei fällt mir wieder einmal auf, wie groß die ihren sind. Noch dazu hat sie als gebürtige Südamerikanerin für ihren dunklen Typ ungewöhnliche hellgrüne Augen. Sie reißt mich aus meinen Gedanken. Offensichtlich kann sie mir ansehen, dass meine Gedanken allmählich abzuschweifen drohten.
„Hallo! Noch da? Also woran kannst du dich denn noch erinnern, wenn du an unseren Ladenbesuch denkst?“
An was ich mich erinnern kann? Jede Sekunde ist mir so präsent, als würde ich alles noch einmal erleben.
„Am meisten schaudert es mir noch immer, wenn ich an das Gefühl denke, von jemandem… oder etwas beobachtet zu werden, ohne zu wissen, wer oder was es ist. Ich hatte das Gefühl, alle meine Gedanken seien nicht mehr die meinen.“
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