„Wo waren Sie?“, keifte er, während eine dünne Zornesader auf seiner Stirn bedenklich an Umfang zunahm. Er rümpfte die Nase, als ihm der angestaute Biermief aus dem Wageninneren entgegenschlug. „Haben Sie etwa getrunken!?“, stellte er mehr fest, als er fragte. Er hielt mir seinen Zeigefinger drohend vor die Augen. Seine Stimme überschlug sich beinahe. „Ich verspreche Ihnen; sollten die Ermittlungen zeigen, dass dieser Zeuge aufgrund Ihres verantwortungslosen Handels umgekommen ist, werden Sie persönlich die Konsequenzen dafür zu tragen haben! Wer hat Ihnen überhaupt erlaubt, Ihren Dienst zu beenden!?“
Ich hatte Steinmann schon des Öfteren wütend gesehen, aber in diesem Moment schien er kurz vor einem Herzinfarkt zu stehen. Normalerweise war ich mit einer großen Klappe gesegnet – oder verflucht, wie immer man es auch betrachtete – aber in diesem Moment wusste ich nicht, was ich auf Steinmanns Vorwürfe antworten sollte. Das Schlimme war; er hatte mit seiner Schimpftirade Recht. Es war einfach nicht entschuldbar, dass ich der Spur, die ich zu unserem Zeugen Thomas Becher erhalten hatte, nicht unverzüglich nachgegangen war. Sollte der Mörder durch mich tatsächlich die Möglichkeit erhalten haben, seine Mordserie fortzusetzen, so war das alleinig meine Schuld. Und ich war mir nicht sicher, ob ich mit dieser Schuld würde leben können.
„Was ist hier denn überhaupt passiert?“, sprang Bobby plötzlich hinter mir in die Bresche und lenkte Steinmann von seinem auserwählten Sündenbock ab.
„Das sollten Sie sich selbst ansehen. Wir sind auch noch nicht allzu lange hier.” Steinmann fuhr sich fahrig durch die Haare, schien aber zu dem Schluss zu kommen, dass er mich auch zu einem späteren Zeitpunkt zur Sau machen konnte. Er stampfte mit wütenden Schritten in Richtung Hauseingang davon und gab uns mit seiner Hand ein Zeichen, ihm zu folgen.
Bobby klopfte tröstend auf meine Schulter. „Mach dir nichts draus“, flüsterte er mir zu. „Niemand konnte damit rechnen! Das weißt du, das weiß ich und das weiß auch Steinmann. Morgen hat er sich wieder abgeregt.”
Er trottete Steinmann hinterher, ließ sich aber absichtlich viel Zeit. Er liebte es, den alten Haudegen zu reizen.
Ich blieb jedoch für einen kurzen Moment zögernd stehen. In mir wuchs langsam die unheilvolle Vorahnung heran, dass wir erst am Anfang einer schrecklichen Mordserie standen, die uns noch lange in Atem halten sollte, weitaus länger, als irgendjemand von uns ahnte. Doch selbst in dieser Sekunde der plötzlichen Einsicht sollte ich noch nicht einmal einen Bruchteil der Schrecken vorhersehen können, die in den kommenden Wochen noch auf mich warten sollten.
Noch direkt am Hauseingang hatte Steinmann mich mit wenigen, stark von seiner Wut eingefärbten Worten zur Befragung des Hausmeisters abgestellt, der im Erdgeschoss direkt neben der Eingangstür in einem kleinen Apartment hauste. Die große Fronttür zum Haus wies keinerlei Einbruchsspuren auf, wie die Spurensicherung festgestellt hatte; somit blieb die Frage, wie der Mörder das Haus betreten hatte. Die Fachkraft für Gebäudewartung, wie sein eilends übergeworfener Blaumann stolz verriet, hatte bis zum Eintreffen der Polizei keine verdächtigen Geräusche bemerkt. Meine Vermutung war, und diese Vermutung wurde durch einen starken, eindeutigen Geruch aus seiner Richtung unterstützt, dass er unter dem Einfluss starker alkoholischer Getränke die letzten Stunden im Koma verbracht hatte und es selbst nicht mitbekommen hätte, wenn direkt neben ihm der dritte Weltkrieg ausgebrochen wäre. Der Hausmeister war ein grobschlächtiger Mann, dessen permanenter Alkoholmissbrauch sich sowohl in dem Zustand seiner Haut, als auch in seiner schlechten Mundhygiene niedergeschlagen hatte. Seine Hände, die er in regelmäßigen Abständen nervös zu seinem Stoppelkinn führte, waren vom Nikotin gelblich verfärbt. Es war ihm anzusehen, wie unangenehm es ihm war, mit der Polizei zu sprechen.
„Ich habe nichts gehört“, beteuerte er nochmals, als würde er unter Anklage stehen, und entblößte eine Reihe gelber Zähne. „Ich bin erst wach geworden, als Ihr bei mir geklingelt habt.” Er grunzte besorgt und blickte hektisch zwischen mir und ein paar Kollegen der Spurensicherung hin und her, die den Flur nach Spuren absuchten. Seinem Gesichtsausdruck zufolge überlegte er gerade, ob er die Polizeibeamten ermahnen durfte, sich gefälligst die Schuhe beim Betreten des Gebäudes abzuputzen.
Der Hausmeister war ein Angestellter des Amtes für Wohnungswesen, der neben der kostenlosen Unterkunft ein kärgliches Salär bezog. Der gesamte Gebäudekomplex hielt Sozialwohnungen für die finanziell Benachteiligten der Bevölkerung bereit und strahlte das Flair einer Militärkaserne aus. Die Abwesenheit von Luxus, wie zum Beispiel etwas Farbe oder sogar ein Aufzug, bedeutete jedoch nicht, dass die Gebäude ungepflegt waren. Ganz im Gegenteil, im direkten Vergleich zu dem Loch, in dem Merkmann bis zuletzt gewohnt hatte, stellte sich die Innenansicht der Sozialbauten als geradezu wohnlich dar. Offensichtlich war der Eigentümer der Häuser sehr zufrieden damit, für alle Mieter die Miete zuverlässig in regelmäßigen Abständen vom Staat zu erhalten und hatte sich vollständig vom freien Wohnungsmarkt zurückgezogen, auf dem er grundsätzlich das Risiko einging, Mietbetrügern auf den Leim zu gehen. Jeder einzelne der Bewohner, wie mir der Hausmeister nicht ohne Stolz verriet, bezog sein Geld vom Amt.
„Wir haben hier noch nie Ärger gehabt“, versicherte er mir und nickte übertrieben heftig. „Oh ja, alles ehrbare Leute hier.” Das Wort ‚ehrbar‘ betonte er hierbei für meinen Geschmack etwas zu stark, um glaubwürdig zu sein. Er versuchte, an mir vorbei die Treppe hinaufzublicken. „Was ist überhaupt passiert?“, lallte er neugierig und leckte sich ereifernd über seine spröden Lippen. „Ein Mord?”
„Zum laufenden Stand der Ermittlungen kann ich keine Aussagen treffen“, spulte ich routiniert unsere Standardantwort ab, wie an so vielen anderen Tatorten auch. „Vielen Dank für Ihre Kooperation. Falls Sie uns weitere Hinweise geben können, melden Sie sich bitte unverzüglich bei mir.” Ich drückte ihm eine meiner Visitenkarten in die Hand, die zwar nicht einen so strahlenden Titel wie sein Namensschildchen aufwies, aber zumindest klar und deutlich vermittelte, dass ich zur Polizei gehörte. „Bitte gehen Sie jetzt zurück in Ihre Wohnung. Falls wir eine schriftliche Aussage von Ihnen benötigen, melden wir uns bei Ihnen.”
Ich nickte freundlich aber unverbindlich und ließ den armen Kerl in dem siedenden Saft seiner eigenen Neugier stehen. Er würde uns keine weiteren Informationen geben können; wahrscheinlich konnte er froh sein, wenn er sich am nächsten Tag noch an seinen eigenen Namen erinnerte, so wie jede Pore seines Körpers Alkohol ausdünstete. Während ich die Stufen zu den nächsten Stockwerken emporstieg, schwor ich mir, meinen Alkoholkonsum in Zukunft einzuschränken. Manchmal ist es erschreckend, vor Augen geführt zu bekommen, wohin der Weg führen kann, dem man so manches Mal gedankenlos folgt. Irgendwie regte sich in mir der Verdacht, dass Steinmann mich nur für die Befragung des Hausmeisters auserwählt hatte, um mir genau das vor Augen zu führen. Das würde Steinmann ähnlich sehen, dem alten Wadenbeißer, als kleine Retourkutsche für die Tatsache, dass er mich bei einem Kneipenbesuch erwischt hatte.
Die Treppe führte mich geradewegs in den zweiten Stock, wo vor einer 08/15 Einheitstür zwei Männer mit kleinen Pinselchen feinen Staub verteilten, um Fingerabdrücke zu finden.
„Wie ist der Mörder eingedrungen?“, fragte ich einen jungen Kerl, der noch nicht allzu lange bei der Truppe dabei sein konnte und mit seinem Pinsel am Türknauf herumfuhrwerkte.
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