Die schulische Realität ist davon freilich noch weit entfernt. Wer für seine Begabungen und Interessen innerhalb des gegenwärtigen Fächerkanons keine Nische für Entfaltung findet, wird, je nach Persönlichkeit und Temperament, Strategien entwickeln, um den Schaden für sich persönlich gering zu halten (von Sich-Arrangieren mit den Gegebenheiten bis hin zur Verweigerung). Viele mit für die Schule „belanglosen“ Stärken ausgestattete SchülerInnen müssen diesen Umstand mit erhöhtem Einsatz kompensieren, wenn sie nicht als Schulversager abgestempelt werden wollen. Dies bedeutet für sie, wiederholt an ihre Grenzen zu stoßen, immer wieder aufs Neue vor Augen geführt und bestätigt zu bekommen, dass sie nicht können, was sie nicht können, und auf die wichtigsten „Nebenwirkungen“ gelungener Potentialentfaltung – Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen – zumindest für die Dauer des Schulbesuchs zu verzichten.
Ich sehne die Zeit herbei, in der wir alle uns einer Stärkenkultur verpflichtet fühlen und damit einem Menschenbild, das niemand mehr fürchten muss. Wir alle haben die Wahl, worauf wir unseren Blick richten wollen: auf das, was wir haben oder das, was uns fehlt, auf das Gelingende oder unsere „Defizite“. Die Überlegung, wie wir selbst von anderen gerne wahrgenommen werden möchten, dürfte uns diese Wahl erleichtern. Wenn wir von einer globalen Verantwortung ausgehen, vorhandene Ressourcen so zu verwalten, dass sie uns allen zum Wohl gereichen und nicht zum allgemeinen (menschlichen) „Bankrott“ führen, dann kann die Verantwortung von PädagogInnen keine grundlegend andere sein: „Wie möchte ich mit den Schätzen (Ressourcen) meiner Kinder / Schüler umgehen, dass sie sich vermehren und ihre Kraft entfalten?“ wäre dann eine selbstverständlich gestellte Frage, in der sich ein Menschenbild ausdrückt, das sicherlich jeder gerne auch für sich selbst in Anspruch nehmen möchte. Mit dem Lehrer als „Schatzmeister“ würde der defizitbehaftete Begriff Fehler eine Umdeutung erfahren in das, was er genau genommen ist: eine Lern-, Veränderungs- und Entwicklungschance – und erst dann sind Schule und Unterricht für den Menschen wirklich lehrreich.
Nachdem die Realität, wie wir sie konstruieren, das ist, was auf uns wirkt, das heißt unserer Wirklichkeit gleichkommt, lohnt es sich, diese gelegentlich zu überprüfen. Forschen wir nach, was wir von dem, was wir als unsere (nicht nur schulische) Realität vorfinden (noch) als sinnstiftend und bewahrenswert erachten und lassen wir uns angesichts der vielen Unstimmigkeiten, auf die wir dabei stoßen mögen, nicht entmutigen. Jedem Problem wohnt mit Bestimmtheit mindestens eine Lösung inne und wenn diese zunächst darin liegt, die Sichtweise zu ändern.
Sinnhaftigkeit
Stell dir vor, die Schule wäre noch nicht erfunden und wir müssten uns überlegen, wie wir junge Menschen dabei unterstützen könnten, ihren eigenen Weg ins Leben zu finden.
Würde dir das bestehende Schulsystem in den Sinn kommen?
Individuelle Förderung und „Motivation“
Stell dir vor, du bekämst jeden Tag etwas zu essen vorgesetzt, das du nicht magst, und dürftest nicht eher aufstehen, bis du aufgegessen hast. Und die einzige Überlegung des Kochpersonals wäre, wie man dir die ungeliebte Kost schmackhaft machen könnte.
Würdest du rascher essen und deine Vorlieben ändern?
Soziale Gerechtigkeit
Stell dir vor, du möchtest eine Reise deiner Wahl antreten, doch der Reiseveranstalter hätte nur eine Destination für alle Teilnehmer im Angebot. Die einzige Wahl bestünde in der Route, dem Verkehrsmittel und der Reisedauer.
Würdest du an dieser Reise teilnehmen wollen?
Soziale Anpassung
Stell dir vor, du wärst gezwungen, dich ständig mit Bedingungen zu arrangieren, die andere für dich in guter Absicht, aber in Unkenntnis deiner Vorlieben festgelegt haben.
Wärst du bereit deinen Eigen-Sinn zu opfern?
Verhaltensauffälligkeit
Stell dir vor, du würdest als einzige/r fortwährend gegen dir als unzumutbar empfundene Bedingungen rebellieren.
Würdest du dich willkommen fühlen?
Optimierung
Stell dir vor, dein Leben wäre ein Fluss, dessen Lauf nach externen Erfordernissen reguliert wird.
Würdest du dich freiwillig verbiegen (lassen)?
Traum
Stell dir vor, ein Couturier bekäme den Auftrag, dir etwas auf den Leib zu schneidern, das dir in Größe, Form und Farbe voll und ganz entspricht.
Würdest du aus diesem Traum erwachen wollen?
Liebe
Stell dir vor, du hättest die Fähigkeit, jedes Kind mit Gottes Augen zu sehen.
Welche Schule, welche Bildung würdest du ihm anbieten?
Wenn ich ein Rezept für die Gesundung der Schule verschreiben müsste, dann wäre es auf eine hohe Dosis Vertrauen ausgestellt: Vertrauen in die Selbstentfaltungskraft menschlichen Potentials, die die natürliche Entwicklung jedes Einzelnen mühelos in Fluss hält. Oder in anderen Worten: Vertrauen in eine höhere Intelligenz – auch Gott genannt –, die uns geschaffen hat und ihre Schöpfung in und durch uns aufrechterhält und weiterführt. Ans „Machen“ gewöhnt, ist uns das Gottvertrauen abhanden gekommen. Dieses Vertrauen, das sich durch Nicht-Eingreifen auszeichnet und uns schon deshalb Angst macht, weil wir meinen, die Dinge würden aus dem Ruder laufen, wenn wir dieses erst mal aus der Hand geben oder anderen überlassen. Dabei geht es nicht darum, die Hände in den Schoß zu legen oder Dinge an andere zu delegieren, sondern um die Fähigkeit, zur Seite zu treten und den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen – im Wissen um die intelligente Selbststeuerungskraft, die der Natur und damit uns allen, nicht nur physisch (Atmung, Blutkreislauf, Verdauung…), innewohnt (darüber später mehr). Dass wir, wenn wir um uns und in die Welt hinaus blicken, oft an einer intelligenten Kraft zweifeln, liegt nicht daran, dass es sie nicht gäbe, sondern vielmehr an unserem „Machertum“. All die Missstände und beklagten Übel unserer Zeit sind nicht einem Zuviel an (blindem) Vertrauen geschuldet, sondern einem Mangel an eben diesem. Dort wo Misstrauen und Kontrolle die Vorherrschaft übernehmen und „Macher“ auf den Plan treten (deren es mehr gibt als die Welt verkraftet), mehrt sich all das, was wir durch Kontrolle zu unterbinden hoffen – von Unehrlichkeit und Betrug über Aggression und Rebellion bis hin zu Verbrechen und Terrorismus. (Studien zufolge steigt die Zahl der Verbrechen dort, wo das Polizeiaufgebot (=Kontrolle) erhöht wird; terroristische Anschläge haben seit deren Bekämpfung sichtlich nicht ab- sondern zugenommen…). Wir wurden schon als Kinder (auch in der Schule) gelehrt und lehren wiederum unsere Kinder zu beten „Dein Wille geschehe…“ und fürchten doch nichts mehr als den Verlust der Kontrolle. Ein Misstrauensantrag an Gott – wer sich mit dem religiösen Begriff schwer tut: ein Misstrauensantrag an unsere eigene (menschliche) Natur. Vertrauen ist eine freie Entscheidung. Eine Entscheidung, für die es nie zu spät ist und die ich jeden Tag neu treffen kann. Deshalb sehe ich zuversichtlich gestimmt immer noch die volle Hälfte des Glases, lasse mich, meinetwegen zu optimistisch oder naiv-vertrauensvoll nennen und hierin keines Besseren belehren. Inmitten (nicht nur) pädagogischen Gestrüpps und festgefrorener Strukturen sehe ich farbenfrohe Blüten als hoffnungsvolle und Mut spendende Zeichen dafür, dass es „Frühling“ werden könnte.
Die Verantwortung der Blüten für den Frühling
In jedem System bedarf es zwecks Erhalt und Stabilisierung des ideologischen Grundgerüsts und Überbaus (Normen, Werte, Überzeugungen, Unternehmensphilosophie...) einer Übereinkunft bezüglich bestimmter zu erbringender Leistungen und Haltungen seiner Mitglieder. Immer wieder wird Nicht-Entsprechendes dem Fortbestand gesellschaftlicher Systeme zuliebe in systemverträgliche Bahnen gelenkt und Nonkonformismus „absozialisiert“. So wie die etablierten Systeme selbst, hat auch diese Methode aufgrund der moralisch-sozialen Bindung des Einzelnen an das Ganze und der damit verbundenen Vorteile (Sicherheit, Beständigkeit, Orientierung, Belohnung…) lange Zeit funktioniert.
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