Da ich für den heutigen Tag sowieso nichts Besseres vorhatte, nutzte ich Dennis' Freundlichkeit direkt aus, ließ mir von ihm helfen und zog meine ersten Bahnen.
Die Schwerelosigkeit im Wasser konnte man mit nichts anderem vergleichen. Es war der Moment, in dem man das Gefühl hatte, dass alles in Ordnung war. Ich musste mir zwar meine Beine zusammenbinden, damit ich schneller schwimmen konnte, aber das sah man kaum. Und viel wichtiger: ich spürte es ja nicht. Ich hatte nur das einmalige Gefühl, mich genauso schnell oder sogar schneller als alle anderen bewegen zu können. Und wer nicht genau hinsah, sah auch nur mich – nicht meine nutzlosen Beine oder meinen Stuhl.
Ich schwamm meine üblichen zwei Kilometer und genoss das angenehme Brennen in meinen Armmuskeln.
Als ich fertig war, kam diesmal Dennis' Kollegin, brachte den Transportstuhl mit und half mir hinein.
Sie lachte mich an: „Dennis hatte recht – du bist ein unkomplizierter Fall, das sind mir die liebsten! Solltest du noch was brauchen – frag nach Moni. Du kannst den Stuhl anschließend einfach in der Umkleide stehen lassen, ich versorg ihn nachher!“
Damit war sie auch schon wieder weg.
Das war ja einfacher gewesen als gedacht.
Unwillkürlich musste ich an unser altes Schwimmbad zu Hause denken. Die hatten immer einen Aufstand gemacht am Anfang, als ich mit dem Training angefangen hatte.
Einmal war sogar die Mutter eines kleinen Kindes zu mir gekommen und hatte mich gefragt, ob ich nicht zu einer anderen Zeit schwimmen gehen könnte. Also zu einer Uhrzeit, wenn nicht gerade kleine Kinder da wären, die würden dann Fragen stellen, die man so schwer beantworten könnte. Ich glaubte, dass eher die Mutter und nicht das Kind ein Problem mit mir hatte. Kinder sind erstaunlich offen, sie sind ehrlich, stellen ihre Fragen und akzeptieren Tatsachen – Erwachsene denken immer, es gäbe richtiges und falsches Verhalten. Meistens sind sie es mit dem Problem. Integration ist ein tolles Wort – nur leider in den Köpfen noch nicht angekommen. Ich war körperlich eingeschränkt, behindert, gehandicapt, wie auch immer man es ausdrücken wollte, ich war weder blöde, blind oder sonst etwas.
Ich sah die Blicke – auch jetzt, wo ich im Transportstuhl saß, die Paddel auf dem Schoß und im Begriff, das Band um meine Beine zu lösen. Früher hatte ich zurück gestarrt, war sauer, böse, enttäuscht gewesen. Heute machte ich einfach weiter ohne mich umzuschauen. Ich hatte das Band gerade gelöst, als ein etwas vierjähriges Kind auf mich zukam.
„Warum hast du deine Beine zusammengebunden – und warum darfst du hier in einem Stuhl sitzen?“
Die Mutter der Kleinen kam mit rotem Kopf hinterher, sie wusste ganz offensichtlich nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Sie schwankte zwischen einer Entschuldigung in meine Richtung und einer Schelte für ihr Kind.
Ich sah sie an und schüttelte nur kurz den Kopf, dann wandt ich mich dem Kind zu.
„Ich kann meine Beine nicht bewegen und damit sie im Wasser nicht hin- und herwackeln, binde ich sie zusammen. Denn ich schwimme viel zu gerne, um mir das von meinen Beinen verbieten zu lassen.“
„Werden deine Beine wieder gut?“
„Nein, das werden sie nicht, aber wenn ich im Wasser bin, dann fühlt es sich fast so an!“
„Dann ist es ja gut, dass du so einen tollen Stuhl und das Band hast, oder?“
„Genau, das finde ich auch!“
Ich verabschiedete mich von dem Mädchen und sah der Mutter nochmal in die Augen, nun war es an ihr, mir zuzunicken.
Dann rollte ich in Richtung Dusche und Umkleide.
War das nun so schwer gewesen?
4 Donnerstag, 15. September 2016
- Lucca -
Heute war er also, der erste Tag in der neuen Firma. Zuerst sollte ich nur stundenweise da sein und mir alles genau anschauen. Obwohl wir alle drei zum selben Büro mussten, machten Nate, Sue und ich uns mit drei Fahrzeugen auf den Weg – Sue nutzte bei halbwegs gutem Wetter immer ihr Rad, Nate und ich fuhren mit unseren Autos. Ich hätte auch mit Nate fahren können, aber ich wollte unabhängig sein.
Meinen Schreibtischstuhl hatte Nate schon am Tag vorher mitgenommen. Der Stuhl war eine nette Abwechslung zum Rollstuhl. Er erfüllte zwar den selben Zweck, war aber kleiner, wendiger und für die Büroarbeit praktischer. Zwar hasste ich es, von anderen abhängig zu sein, aber ab und zu ging es nicht anders. Ich würde also auf meinen Bürostuhl umsteigen und ein Mitarbeiter musste dann meinen Rolli wegfahren. Einen festen Ort hatte Nate sich noch nicht überlegt, solange würde er in der Büroküche in der Ecke stehen. Sue versicherte mir, dass alle Kollegen helfen würden – bis auf eine vielleicht. Eine doofe Stute, wie sie sich ausdrückte. Den Namen wollte sie mir nicht verraten, ich sollte meine Erfahrungen selber machen – außerdem würde die die Firma zum Jahresende sowieso verlassen, so lange müsste man sie noch ertragen.
Monika, die Frau deren Stelle ich übernehmen würde, erwies sich als nette Frau kurz vor der Rente, die mich den halben Vormittag mit Geschichten über ihre Enkel unterhielt. Die andere Zeit arbeitete sie mich in die wichtigsten Computerprogramme ein, stellte mir die Kollegen vor und klärte mich über die eine oder den anderen auf.
Es war kurz vor der Mittagspause als eine blondierte, extrem geschminkte Frau ins Büro gerauscht kam. Ich erkannte in ihr die, die mir schon auf den Mitarbeiterfotos unsympathisch gewesen war.
Sie blieb kurz vor Monika und mir stehen.
„Ach, sind Sie die Neue? An Ihrer Stelle würde ich es mir gut überlegen, ob Sie hier arbeiten wollen. Hier hat man keine gute Aussichten, bleiben zu können …“
Mit einem Blick auf Monika fügte sie hinzu: „Wenn allerdings alles, was man erreichen will, der Job einer Tippse ist, dann ist es vielleicht auch egal, wo man arbeitet.“
Mit diesen Worten rauschte sie an uns vorbei in Richtung Küche.
Monika sah mich über den Rand ihrer Brille hinweg an.
„Das war Linda, ihr wurde zum Jahresende gekündigt – viel zu spät, wenn du mich fragst. Das letzte, was sie sich geleistet hat, war Jonathan anzubaggern. Das war zwar nicht der Grund für die Kündigung, aber unschön war es trotzdem. So, wie sie hier mit allen Kollegen umgegangen ist, hätte man sie schon früher vor die Tür setzen müssen. Leider wirst du noch bis Dezember mit ihr und für die arbeiten müssen. Du wirst noch merken, das ist nicht einfach!“
Damit hatte Monika mir bestätigt, was ich mir schon gedacht hatte – Linda war die doofe Stute, von der Sue mir erzählt hatte.
Wenn ich noch einen Beweis gebraucht hatte – der folgte keine fünf Minuten später.
Linda kam aus der Küche und regte sich lauthals auf: „Seit wann dient denn die Küche als Abstellkammer für Sperrmüll? Die ist doch so schon zu klein und nun steht da auch noch so'n Ungetüm drin rum!“
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was sie meinte – mein Rollstuhl stand in der Küche!
Man hatte meinem Rolli ja schon viele Namen gegeben, aber Sperrmüll war bisher noch nie dabei gewesen. Wenn ich eine Sache in Bezug auf Menschen und deren Art zu beleidigen gelernt hatte, dann, dass es immer gut war, in die Offensive zu gehen. Den meisten nahm das so den Wind aus den Segeln, dass sie sich zukünftig eher zurückhielten.
Ich bewegte also meinen Stuhl in ihre Richtung und meinte nur trocken und überaus höflich: „Wenn Sie mit Sperrmüll meinen 4000€ teuren Rollstuhl meinen, dann muss ich Ihnen leider mitteilen, dass Sie sich an diesen Anblick wohl gewöhnen müssen. Denn sowohl mein Rolli als auch ich werden noch ein bisschen hierbleiben. Und wenn wir schon dabei sind – meine Stellenbeschreibung lautet nicht Tippse, sondern Rezeptionistin und Assistenz der Geschäftsführung.“
Linda schnappte sichtbar nach Luft. Es war immer dasselbe, Menschen waren so leicht einzuschüchtern. Herumstänkern, lästern, blöde Sprüche klopfen, das konnten sie gut, wenn es aber darum ging, einen Behinderten beleidigt zu haben, dann ruderten die meisten zurück. Denn bei aller Ekelhaftigkeit, die man sich sonst so erlauben konnte, bevor jemand eingriff - politisch unkorrekt wollte keiner sein. Ich konnte Linda ansehen, dass sie sich fragte, wie sie aus dieser Situation wieder herauskommen würde. Aber die Möglichkeit wollte ich ihr erst gar nicht geben. Ich fuhr statt dessen ohne ein weiteres Wort an meinen Platz zurück und beschäftigte mich mit dem auf einmal wahnsinnig interessanten Programm.
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