Gerade, als ich zu meinen Eltern rüber wollte, zeigte mein Handy eine eingehende Nachricht an.
Als ich den Namen des Absenders sah, musste ich lächeln.
Wenn meine Eltern wüssten, dass er und ich so guten Kontakt hatten, dann würden sie wahrscheinlich an mir und meinem Geisteszustand zweifeln – noch mehr als sonst. Aber Herr Wagner – Max – und ich hatten vor langem unseren Frieden miteinander gemacht.
Für ihn hatte sich vor sieben Jahren auch alles von heute auf morgen geändert. Zuerst war es etwas komisch, aber mit der Zeit wurde er zu einer der wenigen Personen, mit denen ich wirklich reden konnte.
Es war sein Auto gewesen, das mich angefahren und damit in den Rollstuhl befördert hatte. Ich war ihm vor's Auto gelaufen, er war nicht zu schnell, ich aber zu unaufmerksam. Leider hatte der Rest unserer kleinen Stadt das nicht so gesehen.
Max war damals Anfang 30 gewesen, erst vor Kurzem zugezogen, alleinlebend, nur mit seinen Hunden. Er war den Leuten hier sowieso suspekt gewesen, denn er hatte ein Haus am Ortsrand gekauft und alleine umgebaut.
Es war einfacher, ihm die Schuld für den Unfall zu geben. Ihm, dem Neuen, dem Unbekannten. Besser als mir, der „goldenen Tochter“, die sportlich, beliebt und aus gutem Hause war.
Er hatte mich damals oft im Krankenhaus besucht – sehr zum Missfallen aller, die die Geschichte gerne nur schwarz-weiß gesehen hätten.
Während meine Familie nie so genau wusste, wie sie mit mir reden sollten und meine Freunde mit der Situation völlig überfordert waren, kamen Max und ich uns immer näher. Nein, nicht so … , er war wie ein väterlicher Freund, ein großer Bruder. Er hatte nach einer schweren Zeit Ruhe bei uns im Dorf gesucht und war innerhalb kurzer Zeit zum absoluten Buhmann geworden. Durch mich!
Das tat er immer lachend ab – er habe sowieso keinen Kontakt gewollt, sondern eher die Ruhe gesucht, meinte er dann immer.
Ich hatte oft in seiner Werkstatt gesessen, Kaffee mit ihm getrunken und ihm zugesehen, geredet, geschwiegen, wenn ich die Stille in meinem Elternhaus nicht ausgehalten hatte.
Wenn ich ehrlich war, dann würde ich neben meinen Eltern nur Max vermissen, wenn ich jetzt wegging.
Ich öffnete die Nachricht.
„Die Spatzen pfeifen es von den Dächern – sogar ich hab es gehört :-) Du verlässt uns heute?“
„Das hab ich dir schon oft erzählt, tu nicht so!“
„Ich werd dich vermissen, Kleines, wer trinkt denn nun in Zukunft meinen Kaffee?“
„Du hast meine neue Adresse, komm mich besuchen – du wirst mir auch fehlen …“
Es stimmte, er würde mir fehlen, er hatte mir viel Halt und Freundschaft gegeben.
Ich musste an unsere letzte Unterhaltung zurückdenken.
Ich hatte ihm halb ernst halb lachend vorgeschlagen, mitzukommen, weil ihn hier doch sowieso nichts halten würde.
Er hatte mich ernst angeschaut und gemeint: „Wenn ich soweit bin, vielleicht tu ich das, Kleines, aber noch bin ich nicht soweit!“
Eine neue Nachricht riss mich aus meinen Gedanken.
„Ich habe auch gehört, dass das Arschloch bei dir aufgetaucht ist – alles klar?“
(Max hatte Tobi nicht ein einziges Mal bei seinem Namen genannt - für ihn war er immer das Arschloch gewesen, womit er im Grunde ja recht hatte!)
„Ja, er kam, um sich zu entschuldigen für damals, als würde mich das heute noch interessieren! So, wir fahren ab, genieß die Ruhe und danke für alles!“
Wenn ich noch mehr mit Max schreiben würde, dann würden mir gleich die Tränen kommen. Es fiel mir wirklich schwer, ihn zu verlassen, meinen Fels in der Brandung!
Ich verstaute mein Handy und sah zu David, Michael und Nate hinüber, die miteinander herumalberten. Was wäre, wenn Max solche Freunde hätte? Wäre er dann ein anderer geworden? Auf jeden Fall konnte ich ihn mir mit den dreien zusammen besser vorstellen, als alleine mit seinen Hunden in seinem Haus. Aber er hatte ja gesagt, dass er noch nicht so weit sei. Wer weiß, was die Zeit so bringen würde?
- Lucca -
Ich wurde wach und musste mich erstmal orientieren.
Richtig – ich war gestern umgezogen.
Die drei Männer hatte ohne große Probleme all meine Dinge in mein „Übergangszimmer“ gebracht. Die Wohnung war okay, aber für mich nicht ideal. Ich würde mich intensiv nach einer anderen, eigenen Wohnung umschauen müssen. Ich hatte ziemlich genaue Vorstellungen, wie meine perfekte Wohnung aussehen müsste, damit sie für mich geeignet sein würde. Mit Max hatte ich schon Pläne für eine Küchengestaltung gemacht – die würde er mir einbauen. Ein guter Grund, warum er mich dann für einen längeren Zeitraum besuchen müsste. Vielleicht würde ich auch direkt etwas Geeignetes kaufen. So als Investition?
Heute stand für mich auf jeden Fall erstmal das Erkunden der näheren Umgebung an. Ich brauchte ein gutes Schwimmbad zum Trainieren, einen Buchladen zum Schmökern und ein nettes Café. Damit war ich zufriedenzustellen.
Zwar hatte Sue mir vorgeschlagen, ich könnte heute auch mit zu ihrer Freundin Ela und deren Familie zum Brunchen kommen, aber das wollte ich an meinem ersten Tag dann doch nicht direkt. Ich war in den letzten Jahren so viel allein gewesen, dass ich jetzt nicht gut damit klar kam, zu viel unter Menschen zu sein.
Man sollte meinen, ich würde mich nach Menschen, Freunden sehnen, aber eigentlich machten mir zu viele auf einem Haufen Angst. Seit meinem Aufenthalt im Krankenhaus und hinterher in der Reha waren die Kontakte zu meinen gleichaltrigen Freundinnen eingeschlafen. Zuerst waren sie noch bei mir aufgetaucht, aber der Gesprächsstoff ging uns schnell aus. Die Mädchen meiner Volleyballmannschaft erzählten von ihren Turnieren, den Erfolgen, den Jungs – nichts, womit ich noch viel zu tun hatte. Die Freundinnen aus der Schule lästerten über Lehrer, motzten über die Klausuren und schwärmten von Jungs. Auch damit hatte ich nichts zu tun. Tobi wurde nicht erwähnt, zumindest meistens. Ab und zu rutschte sein Name raus – kein Wunder, er war der beliebteste Junge in der angesagtesten Clique, jeder wollte da dazu gehören.
Im Nachhinein war mir klar geworden, dass ich wohl nicht aus großer Liebe, sondern eher wegen des Ruhmes und des Ansehens mit ihm zusammen gewesen war. Aber mein 17-jähriges verletztes, betrogenes und dann auch noch gelähmtes Ich (alles in mehrfacher Hinsicht) hatte das nicht wahrhaben wollen!
Es hatte gedauert, bis ich aus meinem selbstgebuddelten Loch wieder herausgekommen war. Definitiv nicht der Verdienst meines alten Umfelds. Einen großen Dank musste ich Max aussprechen, denn er hatte mit viel Zeit und Geduld einen Weg zu mir gefunden. Und dann in der Reha – zusammen mit ebenfalls Betroffenen und deren Familien, den Pflegern und Zivis. Das war wundervoll gewesen!
Am liebsten wäre ich dort nie weggegangen, aber nur in diesem Schonraum leben, das wäre auch nicht gegangen, dann wäre ich nicht da, wo ich jetzt war.
Während ich mir meinen Rollstuhl zurecht rückte, um einsteigen zu können, musste ich grinsen. Meine Gedanken an die Reha hatten auch die Erinnerung an einen bestimmten Zivi wieder geweckt. Er hatte mich in meiner letzten Reha betreut und mir gezeigt, dass mein Körper noch in allen Bereichen funktionierte. Er war weder mein erster Mann gewesen (das war – im Nachhinein leider - Tobi gewesen) aber auch nicht mein letzter. Aber er hatte mir den nötigen Schubs in die richtige Richtung gegeben. Wir waren bestimmt nicht ineinander verliebt gewesen. Aber heiß aufeinander, das konnte keiner leugnen.
Wir hatten auch heute noch Kontakt, ab und zu eine Nachricht, ein Treffen, ein Essen, viel Gelächter und Gespräche, mittlerweile war er neben Max einer meiner besten Freunde.
Durch ihn hatte ich das Gefühl für meinen Körper wiederbekommen, nicht nur, was meine Sexualität anging, nein, ich hatte auch meinen Stil entdeckt.
Читать дальше