Ich glaube, es ist besser, wenn du ab jetzt mal übernimmst. Bis Tucson sind es noch gut 150 Meilen. Komm, lass und mal aussteigen.“ Ächzend windet er sich aus dem Wohnmobil heraus. Auch Linda reckt sich seufzend, kaum hat sie festen Boden unter den Füßen. Ab und an rollt ein Wagen auf dem Highway vorbei. Diese Hitze ist unerträglich, wer kann, vermeidet es, bei der aufgeheizten Luft unterwegs zu sein. Es ist schier unmöglich, entspannt im Auto zu fahren, wenn der Schweiß in Strömen rinnt. Erst gegen Abend machen die Einwohner ihre Besorgungen und dann nimmt der Verkehr zu. Vom Parkplatz aus haben die beiden Urlauber einen unvergleichlichen Blick auf die Landschaft. Diese Weite und Einsamkeit, die es sonst kaum auf der Welt gibt, zieht sie in ihren Bann. Unterbrochen von wenigen schmalen und flachen Tälern und Biegungen können sie das Band des Highways bis zum Horizont betrachten. In der Ferne erheben sich die berühmten Tafelberge. Manche von ihnen ähneln Gestalten aus alten Mythen und Legenden. Es ist das Land der Abenteuer. Das Land der Kakteen, Palmlilien und Mesquitebäume. Und Kulisse für so manchen Westernfilm. Dean befasst sich seit der Kindheit mit der Geschichte seines Landes. Der alte Westen und die Erzählungen darüber, begeistern ihn nach wie vor. Oft schon war er zum Jagen in dieser Gegend. Bis hinunter nach Sierra Vista führten seine Ausflüge.
Doch die Tour, die sie jetzt unternehmen, kennt selbst er nicht. Für einen hauptberuflichen Büchsenmacher wie Dean ist es fast schon Pflicht, auf die Jagd zu gehen. Sein Geschäft läuft gut. Kein Wunder, denn in diesem Land besitzt jeder mindestens eine Waffe. Und das Schießen ist so normal, wie anderswo Kegeln oder Bowling. Viele meinen, in dieser Wüstenregion gäbe es nichts zu holen. Ein großer Irrtum. Zu den jagdbaren Wildtierarten gehören Weißwedel und Maultierhirsche sowie Wapiti, Gabelböcke und Dickhornschafe. In abgelegenen Gebieten sind sogar noch vereinzelt Bären zuhause. Raubtiere wie Pumas, Dachse und andere marderartige Tiere leben in den Bergregionen. Es gibt genug Wild. Man muss es nur finden in diesem riesigen Land.
„Lass uns weiterfahren“, sagt Dean nach einer Weile. Seufzend setzt Linda sich hinter das Steuer des Wohnmobils. Gerne tut sie das nicht. Solche großen Kisten zu fahren, ist kein Spaß. Immerhin ist das Wohnmobil viereinhalb Meter lang und knapp einen Meter achtzig breit. Das Gefährt einzuparken oder auch rückwärts fahren liegt ihr nicht. Hier auf dem breiten Highway immer geradeaus fahren traut sie sich jedoch zu. Mit ihrer Körpergröße von einem Meter dreiundsechzig ist sie geradezu ein Püppchen und kann kaum über das Lenkrad blicken. Dean zieht sie ganz gern damit auf, aber Linda gibt dann sogleich Kontra, äfft seine Spötteleien nach und bemerkt spitz, dass sie halt nun mal ein mickriges Päckchen ist. Worüber dann beide herzlich lachen. Sie haben sich gesucht und gefunden. Linda kam eines Tages zu Dean in den Laden und fragte nach einer geeigneten Waffe für sich. Wie sie da so in ihrer kleinen Gestalt vor dem Verkaufstresen stand und Dean unbeholfen anschaute, entzückte ihn. Als ob sie schüchtern wie ein Kind nach einem Bonbon fragen würde. Ihr Augenmerk lag dabei auf einem 45er Colt Government. Eine ehemalige Standardwaffe des Militärs. Dean grinste breit und erklärte, dass dieses Schießeisen für sie doch ein wenig zu wuchtig sei. Da brauche sie einen Baumstamm zum auflegen und eine dicke Mauer hinter sich. Nach einigen Sekunden der Verblüffung lachte Linda herzlich über Deans trockene Bemerkung. Und sie sah ein, dass diese Waffe wohl etwas zu groß für sie sei. Auf diese Weise kamen sie ins Gespräch, was dazu führte, dass Dean sie zum Essen einlud. Linda gefiel Deans Humor. Die lockere, ehrliche Art, mit Dingen umzugehen, beeindruckte sie.
Dabei ist Dean nicht gerade ein Adonis. Doch sein markantes Gesicht mit den mittellangen blonden Haaren und dem Dreitagebart strahlt etwas aus, was Linda nicht erklären kann. Dazu seine blauen Augen mit den Lachfältchen. Für Linda nicht Liebe auf den ersten Blick, doch immerhin auf den zweiten. Sie ist eine besonders hübsche Lady. Siebenundzwanzig Jahre alt, schlank, mit langen schwarzen Haaren. Dean verliebte sich auf Anhieb in ihr süßes Stupsnäschen und die grünen Augen, die immer zu lachen schienen. Gerade mal drei Jahre jünger als Dean Grandner. Er hat mit seinen dreißig schon so einiges hinter sich. Nicht immer angenehme Dinge, wie er später seiner Freundin gestand. Seit mittlerweile zwei Jahren sind sie ein Paar und ergänzen sich vorzüglich. Auch wenn sie in manchen Dingen nicht immer einer Meinung sind. Aber bei welchen Paaren ist das schon der Fall?
Jetzt rollen sie im gemächlichen Tempo Tucson entgegen. Langsam wird es dunkel, als die ersten Lichter der Vorstadt auftauchen. Auf einem Parkplatz in Downtown stellen sie ihr Wohnmobil ab. Sie wollen noch einen Bummel machen und dabei verschiedene Dinge einkaufen, denn der Proviant muss aufgefüllt werden. Lange wollen sie nicht in der Stadt bleiben. Gleich morgen früh soll es weitergehen. Beide hassen Großstädte mit ihrem Verkehr, der Hektik und dem Trubel. Deshalb bezogen sie auch gemeinsam ein Haus am Rande von Phoenix. So sind sie schnell in der Stadt und trotzdem weitab von all dem Lärm und dem Pulsieren dieser Großstadt.
Im „Del Norte Shopping Center“ schlendern sie durch die langen Gänge und suchen die Fressalien für die kommende Woche aus. Alles, was man zum Campen eben so braucht. Und vor allem viel Wasser in großen Plastikkanistern. Auch mehrere Gaskartuschen für die Lampen vergessen sie nicht.
Danach fahren sie zurück zum Freeway und stellen ihr Wohnmobil auf einem Parkplatz ab. Bei einem gemütlichen Abendessen plaudert das Paar über das, was es die nächsten Tage vorhat. Dean hat sich große Mühe gegeben und etwas Leckeres zubereitet. Es gibt American Jalapeño.
Jalapeño-Mayonnaise auf gegrilltem Rinderhack mit Käse im Hamburger-Brötchen mit feurigen Kartoffelecken. Dean ist jetzt froh, beim Einkauf den Käse nicht vergessen zu haben. Er weiß, wie gerne Linda diese Speise mag, die schnell angerichtet ist und sehr lecker schmeckt. „Die Gegend unten in der Nähe von Sahuarita soll interessant sein“, murmelt Dean zwischen zwei Bissen. „Dort bin ich noch nie gewesen. Irgendwo dort soll es sogar eine Geisterstadt geben. Keine Ahnung, wo.“
„Uuuh. Eine Geisterstadt.“ Linda schüttelt sich. „Wie gruselig. Hoffentlich begegnen wir dort nicht den Toten, die aus ihrem Grab aufsteigen!“ Sie rollt mit den Augen und fletscht die Zähne, als wäre sie eine Untote. Dean lacht schallend. „Keine Angst, Baby. Wer tot ist, bleibt auch tot. Aber ich weiß, dass man an solchen Orten noch Artefakte und Kram aus den Zeiten des alten Westens finden kann. Schließlich wurde dort um 1883 Silber entdeckt. Fast wie bei einem Goldrausch sind die Leute damals in die Gegend geströmt. Zudem leben seit ewigen Zeiten die Pima-, Maricopa- und Diné-Indianer dort. Heute befindet sich in dem Gebiet das Navaho-Reservat. Das größte Indianerreservat der USA. Wenn wir dort nichts finden, fresse ich einen Besen!“ Linda lacht. „Ja, mein Schatz. Ich kenne die Geschichten. Schließlich bin ich Geschichtslehrerin. Hast du das vergessen?“ Dabei sticht sie Dean mit dem Zeigefinger in die Rippen. „Na klar weiß ich das, Süße. Aber du kennst ja meine Begeisterung. Zudem bin ich immer noch dem Mysterium um meine verschwundenen Vorfahren auf der Spur. Das lässt mir einfach keine Ruhe.“ Dean schüttelt nachdenklich den Kopf.
Linda kennt die Geschichte. Dean hat ihr oft davon erzählt. Dass sein Urgroßvater, sein Großvater und sogar der Vater auf geheimnisvolle und unerklärliche Weise verschollen sind. Diese Begebenheiten sitzen tief. Schon zu Beginn ihrer Beziehung hat Linda ihren Freund oft unruhig erlebt, immer auf der Suche nach Erklärungen dieser Vorkommnisse. Sie hat viel Verständnis dafür und unterstützt Dean in jeder Hinsicht. Vermutlich ist das Ungeklärte seiner Vergangenheit der Grund, warum sie noch nicht verheiratet sind, obwohl Linda es sich sehr wünscht. Darauf angesprochen, erklärt Dean stets, dass er sich noch nicht bereit dazu fühle. Irgendetwas hält ihn davon ab, Linda sein Ja-Wort zu geben. Und das führt immer wieder zu hitzigen Diskussionen. Wie auch diesmal, denn Linda hat eine Idee, die sie gern durchsetzen will. „Wie wär’s? Was hältst du von einer schönen, indianischen Hochzeit, wenn wir schon mal hier sind?“ Wobei sie zu Dean hinüber schielt. Der verzieht das Gesicht. „Du weißt doch, wie ich darüber denke!“ Er windet sich unbehaglich und rutscht auf seinem Sitz hin und her. Doch Linda lässt nicht locker. „Es wäre so schön, Schatz. Ich habe mal so eine Hochzeit gesehen. Es ist fantastisch. Und der Stammeshäuptling hat auch die Berechtigung, eine Trauung durchzuführen. Ich weiß das!“
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