Gesetze im practischen Leben unendlichen Schaden
stiften würde, ist leicht zu beweisen. Was würde aus der
würklichen Welt werden, wenn wir bey unsern
Handlungen nie den Umständen nachgeben, jene nicht
diesen anpassen wollten? Kann nicht in Einer
Staats-Verfassung, in Einem Himmelsstriche, in einem
Zeitalter, etwas zu sagen, oder zu thun, Verbrechen oder
Thorheit seyn, was in einem andern Clima, unter andern
Regierungen, zu andern Zeiten, für Tugend und Weisheit
nicht nur gilt, sondern auch dadurch würklich Tugend
und Weisheit wird, daß es am würksamsten die Harmonie
des Ganzen befördert? Ist es nicht der Klugheit gemäß,
und, um eine größere Summe des Guten zu bewürken,
des tugendhaften Mannes würdig, gewisser Vorurtheile
zu schonen, gewisse kleine Uebel zu dulden, denen man
mit aller Kraft widerstehn müßte, wenn man nur nach
allgemein gültigen Gesetzen handeln dürfte? Wie würde
es um den Krieg, wie um die Politik – zwey
unvermeidliche menschliche Uebel – aussehn? Kurz!
jenes so genannte reine Moral-Princip ist durchaus nicht
für diese Erde gemacht. Wenn wir hingegen den Zweck
jeder Handlung, den Grad des Nutzens vor Augen
haben, den sie bey Beförderung unsrer Glückseligkeit
gewährt, welche zu suchen und zu finden, wir von dem
Schöpfer auf die Welt gesetzt sind und zu welcher die
Mitwürkung zum Wohl unsrer Nebenmenschen und zur
Harmonie des Ganzen nothwendig mit erfordert wird; so
handeln wir gewiß nach den reinsten moralischen
Grundsätzen, für welche die menschliche Natur
empfänglich ist. Das Andre ist Ueberspannung, so wie
die reine, uneigennützige Liebe zu Gott, welche einige
Theologen dem Christen haben zur Pflicht machen
wollen, da doch selbst der erhabene Stifter unsrer
Religion die Bewegungsgründe zur Gottesliebe aus den
Verhältnissen herleitet, in welchen wir zu dem höchsten
Wesen als dem Vater, Wohlthäter, Regierer, Richter und
Vergelter stehen. Man nehme diese Verhältnisse weg; und
der sinnliche Mensch wird nichts für das höchste Wesen
empfinden können, als kalte Bewunderung, Gefühl von
weitem Abstande und von der Unmöglichkeit einer
Annäherung. Man nehme von den Bewegungsgründen
zur Tugend den Zweck, dadurch unsern Zustand
vollkommner zu machen, hinweg; und wir werden gar
keinen bestimmten Begriff damit verbinden; ja! selbst die
innere Stimme unsers Gewissens muß, wenn sie uns
richtig über das, was recht und unrecht ist, belehren soll,
von der Vernunft geleitet werden, indem diese die
Regelmäßigkeit einer Handlung nach dem Zwecke
beurtheilt, welcher, je nachdem er nützlich oder nicht
nützlich ist, wohlthätige oder schädliche Folgen
vorausahnen läßt. Ließe sich's denken, daß eine
Handlung gar keine Folgen haben könnte; so würde diese
weder recht, noch unrecht, also gleichgültig für die
Moralität seyn. Allein solche Handlungen giebt es, genau
betrachtet, wohl gar nicht. Und das ist denn endlich der
letzte Vorzug unsers Systems, daß es den Werth aller
Handlungen, nach den Graden ihrer Nützlichkeit
bestimmen kann, da hingegen die so gepriesenen reinen
Begriffe von Recht und Unrecht sich auf eine große
Anzahl von Handlungen gar nicht anwenden, folglich
den Werth derselben unbestimmt lassen.
22.
Wie wenig fest und haltbar überhaupt die von den
Philosophen der neuern Schule aufgestellten Grundsätze
seyen, davon hat mich noch kürzlich, so wie manche
andre Stelle in ihres, übrigens sehr achtungswerthen
Lehrers Schriften, vorzüglich eine Anmerkung, die ich in
einem seiner Werke finde, das den Titel führt: Die
Religion, innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft,
überzeugt. Hier, wo er sich bemüht, sein System so zu
zerren, daß es auch über den Leisten der theologischen
Orthodoxen passen, folglich auch der Lehre von der
Erbsünde keinen Abbruch thun soll, sagt er: »Es sey eine
von den unvermeidlichen Einschränkungen des
Menschen und seines practischen Vernunftvermögens,
sich bey allen Handlungen nach dem Erfolge davon
umzusehn.« Nun dann! wenn dies eine für ihn
unvermeidliche Einschränkung ist; so scheint es doch
wohl der Vernunft nicht gemäß, von ihm zu fordern, daß
er nach Bewegungsgründen handeln solle, die gar keinen
Bezug auf den Erfolg haben, und die also für seinen
eingeschränkten Geist zu hoch sind.
23.
Und nun zum Schlusse dieses, vielleicht manchem Leser
zu trocken scheinenden Abschnittes, noch einige
Bemerkungen! Ich habe oben die Würklichkeit
angebohrner, allen Menschen eingepflanzter bestimmter
Begriffe von Tugend und Pflicht geleugnet. Es ist
hingegen unwiderlegbar gewiß, daß in unsrer Natur ein
lebhaftes Gefühl von Recht und Unrecht, das heißt: von
dem, was der Vernunft gemäß und nicht gemäß ist,
herrscht, welches jedoch erst durch die Verhältnisse und
Lagen, in welche wir versetzt werden, eine deutliche und
bestimmte Richtung bekömmt. Es geschieht aber, durch
eine sehr gewöhnliche Verwechselung von Ideen, daß wir
diejenigen Eindrücke, welche wir durch Erziehung und
nachherige Bildung erhalten haben, nachdem sie uns zur
andern Natur geworden sind, für angebohrne Begriffe
halten. Daher der Irrthum derjenigen, welche, mit
Verwerfung aller Rücksichten auf Erfolg und Nutzen, in
dem Geiste und Herzen der Menschen die
vollkommensten und würksamsten reinen Motive zur
moralischen Pflicht-Erfüllung zu finden glauben. Diese
Verwechselung findet nicht weniger bey andern Begriffen
und Empfindungen Statt. So hat, zum Beyspiel, jeder
Mensch ein angebohrnes Gefühl von Schönheit, oder
vielmehr einen natürlichen Sinn für den Unterschied
zwischen schön und häßlich; allein giebt es darum eine,
von allen Menschen unter allen Himmelsstrichen
anerkannte allgemeine Regel der Schönheit? Ist deswegen
derselbe Gegenstand unter allen Umständen immer
gleich schön oder häßlich? Gewiß nicht! Man rede aber
von einer schönen menschlichen Gesichts-Form; so wird
dem an antike Profile gewöhnten Kunstkenner die
Gestalt der griechischen Stirnen und Nasen, dem Neger
aber wird ein ganz andres Ideal vor Augen schweben und
doch wird bey Beyden der Grund-Begriff rein seyn,
nämlich abstrahirt von dem Wohlgefallen, das in ihm der
Anblick des vollkommensten menschlichen Antlitzes, (so
wie er sich die Idee davon durch Gewohnheit von Jugend
auf eingeprägt hat) erweckt. Eben so ist es mit den
Begriffen von Ordnung. Diese sind sehr relativ, obgleich
das Gefühl für Ordnung und Symmetrie in jedem
Menschen von Natur wohnt. Der Platz, den in Einem
Hause, in einem Zimmer, eine Sache vernünftiger Weise
einnehmen muß, würde in einem andern für dieselbe
Sache äußerst unschicklich seyn. Allein man rede von
einem ordentlichen Manne; so werden sich an diese
Haupt-Idee alle, durch Gewohnheit hinzugekommene
Neben-Begriffe anschließen, und jeder Anwesende wird
sich, ohne es zu wollen, den ordentlichen Mann als einen
Solchen denken, der seine Geschäfte in eben der Reihe,
wie er, verrichtet, seine Sachen nach eben der Weise, wie
er, verwahrt. Wäre es nun aber vernünftig zu behaupten:
Man müsse sein Hauswesen, seine Geschäfte, ohne
Rücksicht auf Umstände und Folgen, immer nach
solchen Regeln ordnen, die zu jeder Zeit als allgemeine
Gesetze für alle Haushaltungen gelten könnten?
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