»Du magst diesen Hellmann nichts sonderlich«, sagte Andresen, als sie wieder allein waren.
Die Antwort war ausweichend. »Wie kommst du darauf?«
»Glaubst du wirklich, dass er in dieser langen Zeit niemandem begegnet ist?«
»Das weiß nur er allein. Aber warum sollte er lügen?« , fragte Larsson. Er suchte sich die Telefonnummer des »Oasis« heraus und wählte die Nummer. Er meldete sich mit Namen und Dienststelle und erfuhr, dass die Kerners noch bis zum kommenden Tag gebucht haben.
»Wir fahren jetzt ins ›Oasis‹.« Er stand auf. In dem kleinen Hochschrank hatte er seinen Mantel hängen, den er jetzt herausnahm und anzog.
Sie gingen über den Flur. Larsson schaute noch einmal zu Simons ins Büro der Kommissare. »Hast du schon mit dem Forstamt telefoniert?«
»Ja. Negativ. Zwischen den Jahren wird gar nicht gearbeitet, und erst am Montag, dem 9. Januar, haben sie wieder angefangen«, erklärte Simons. »Aber nicht im Forsten zu Ahlbeck. Da haben sie bei Pudagla angefangen, um Baumbruch zu beseitigen.«
»Wir sind kurz außer Haus«, sagte Larsson.
Zwölf Minuten später parkten sie den Dienstwagen am Hintereingang des »Oasis«. In der Einfahrt standen einige Fahrzeuge der gehobenen Oberklasse. Sie gingen um das Haus den Verbindungsweg zur Promenade entlang.
Vor ihnen lag der Park, in dem die große weiße Villa und das Gästehaus lagen. Die wechselvolle Geschichte des »Oasis« begann einige Jahre, nachdem der Oberforstmeister von Bülow 1820 die kleine Fischersiedlung Heringsdorf gründete, König Friedrich Wilhelm III. die Insel für sich und seine Familie entdeckte und der einsetzende Bäderbetrieb in Swinemünde 1824 v. Bülow veranlasste, eine Badeanstalt zu eröffnen. Der Geheimrat Hugo Delbrück gründete danach die Aktiengesellschaft Seebad Heringsdorf, und die finanzkräftigen Familien aus Berlin ließen nicht lange auf sich warten. Denn nach dem Bau des Hotel Kaiserhof Atlantic, des Kurplatzes und 1893 der Seebrücke wurde entlang der Promenade zwischen Swinemünde und Bansin begonnen, je nach Geldbeutel zum Teil sehr großzügige Grundstücke zu vergeben, auf denen sich dann die Industrie-, Kunst- und Politikprominenz der Reichshauptstadt prachtvolle Villen baute.
Andresen senkte instinktiv die Stimme, als sie den Park betraten und auf das Haus zugingen. »Ich möchte nicht wissen, was allein die Pflege des Parks monatlich verschlingt. Ein Vermögen.«
»Im Sommer blühen die großen Hortensien und verwandeln den Garten in ein rot-gelb-grünes Meer der Erholung für die Seelen«, antwortete Larsson.
Sie betraten den Eingang. »Mein Name ist Larsson, Kripo Heringsdorf. Das ist mein Kollege Andresen. Wir haben vor Kurzem miteinander telefoniert«, sagte Larsson zu der freundlichen Frau an der Rezeption.
»Sie fragten nach dem Ehepaar Kerner.«
»Ja.«
»Sie sind gerade ins ›Rossini‹ gegangen«, sagte die Frau und deutete mit dem Kopf zum Eingang des Restaurants hin. »Ich würde es bevorzugen, wenn Sie die Gäste dort nicht stören würden.«
»Das ist kein Problem. Vielleicht melden Sie uns an?«
Die Frau machte sich auf den Weg ins Restaurant, das nur zwei Türen von ihnen entfernt war, von denen eine offen stand, sodass Larsson die edle Einrichtung des Restaurants für Sekunden zu sehen bekam.
Larsson nahm sich einen der Hausprospekte.
Das hat Stil. Fünf Sterne sind fünf Sterne. Vielleicht nicht überall, hier aber bestimmt.
»Sie haben nach mir gefragt?«
Ein Schweizer!
Larsson drehte sich um.
»Rino Kerner.«
Ganz egal, welchen Maßstab man anlegt, so sieht Schweizer Geldadel aus. Als Hommage an Benvenuto Cellini, den Bildhauer und Goldschmied der Päpste und Könige der Renaissance, hat Rolex eine Uhrenkollektion entworfen, die den Namen des Meisters trägt. Kerner trug solch eine 18 Karat Everose-Gold-Uhr mit einem schwarz-roséfarbenen Zifferblatt Rayon Flammé de la Gloire und einem schwarzen Lederband mit Schmetterlingsfaltschließe, ebenfalls in 18 Karat Gold.
Larsson kannte sich aus, hatte er doch vor einiger Zeit einen Hoteldieb dingfest machen können und dabei Gelegenheit gehabt, sich mit der Rolex-Kollektion vertraut zu machen.
»Es ist freundlich, dass Sie sich für uns ein paar Minuten Zeit nehmen. Es geht um die Jagd.«
»Um die Jagd von gestern?«
»Ja.«
»Kommen Sie. Es ist Mittagszeit, da ist die Bibliothek leer.«
Larsson bedeutete Andresen, der etwas abseits gestanden hatte, dass er mitkommen möge.
Die kleine Bibliothek war mehr ein Aufenthaltsraum. Ein grüner Bauernschrank, in dem vier Reihen Bücher untergebracht waren, stand über eine der Ecken neben dem Eingang. Ein Holztisch mit einer Glasplatte stand vor den schwarzen Ledersesseln italienischer Herkunft. Der große Perser war farbig gut auf das im Zweifach-Fischgrätmuster verlegte Parkett und die zarte, durch mediterranes Ocker abgesetzte Farbe der Wand abgestimmt. Obwohl es nicht ganz dunkel war, erhellten Wandlampen den Raum.
Larsson kratzte sich am Kopf, als sie sich auf die andere Seite des Raumes in die schwarzen Lederfauteuils gleiten ließen. »Was wissen Sie über den Fund der Frauenleiche?« , fragte er.
Kerner zuckte mit den Schultern und machte ein fragendes Gesicht. »Das, was alle wissen. Der Gastgeber hat sie gefunden. Daraufhin hat er die Jagd abgebrochen.«
»Ich habe die erlegten Tiere gesehen … Bei einem der Rehe habe ich mehrere Einschusslöcher gezählt«, stellte Larsson fest.
»Eine Trefferquote von 4:1 ist während der Drückjagdsaison ein durchaus normales Trefferverhältnis«, antwortete der Schweizer.
»Das heißt, dass bei Bewegungsjagden nur 25-30 % des Wildes durch Blattschuss erlegt werden?«, schaltete sich Andresen ein.
»In etwa.«
»Im Umkehrschluss heißt das, dass über 70 % der Tiere auf Bewegungsjagden durch Anschüsse lediglich verletzt werden.«
»Ja.«
»Können Sie sich vorstellen, welche Qualen ein Tier erleidet, das vielleicht erst mit dem vierten, fünften oder sechsten Schuss getötet wird?« Andresens Stimme klang vorwurfsvoll.
»Als Nachsuchenführer kotzt mich dieses Verhältnis auch an«, sagte Kerner. »Bei den meisten Schüssen auf Drückjagden werden Äser-, Gebrech- und Keulenschüsse einfach in Kauf genommen. Gerade bei Leuten, die am Jägerstammtisch vor Waidgerechtigkeit triefen, habe ich die größten Schlumpschützen erlebt. Bei den heute üblichen Bezahljagden in den Forsten erlebt man die übelsten Aasjäger.«
»So gefühllos wie mancher Mensch ist kaum ein Tier. Im Göttlichkeitswahn und im Glauben, er sei ›so viel mehr‹, ward der Mensch gegen Natur und Kreatur zum Monster auf dieser Erde hier«, warf Andresen bitter ein.
»Jeder neigt dazu, Tugend zu predigen, die Allerwenigsten praktizieren sie auch«, konterte Kerner.
»Sie waren gestern Nachsuchenführer?« , fragte Larsson, ohne auf den Disput der beiden Männer einzugehen.
»Nein. In der Schweiz. Aber ich war bei der Gruppe der Nachsucher dabei.«
»Haben Sie auch in dem Quadrat gesucht, in dem die Leiche gefunden wurde?«
»Ja.«
Larsson überlegte kurz. »Haben Sie irgendwelche noch so geartete Spuren gesehen?«
»Natürlich. Es heißt ja Nachsuche. Also sind wir auf Spuren von den Drückern und auch tatsächlich auf Schweißspuren gestoßen.«
»Schweißspuren von angeschossenem Wild?«
»Leider ja. Wir haben ein Reh, das einen Bauchschuss hatte, erlösen können.«
Larsson präzisierte seine Frage. »Haben Sie irgendwelche Spuren gesehen, die nicht von Wild herrühren können?«
»Nein«, sagte Kerner.
»Diese Drückjagd im Landesforsten Ahlbeck, habe ich mir sagen lassen, findet alljährlich statt. Waren Sie schon öfters dabei?«
»Das zweite Mal.«
»Wie kommt es, dass ein Schweizer Kaufmann aus …«
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