Der Rest ist dann schnell erzählt. Frank hat mich ein paar Monate später zusammen mit seiner Freundin wieder besucht. Damals ist auch das Foto von Beatrix entstanden, das ihr mir gezeigt habt. Ich habe Frank gefragt, ob er bei dem Professor war. Er hat gesagt ja, aber er wäre der Sache dann doch nicht weiter nachgegangen. Aber er hat gelogen. Das habe ich sofort gespürt. Er hat so eine negative Aura gehabt. Als ob etwas auf seiner Schulter sitzt. Das Böse hatte ihn schon gezeichnet. Und das schlimmste war, seine Freundin hatte diese Aura auch. Er muss sie irgendwie eingeweiht, mit hineingezogen haben. Später sind sie dann beide gestorben. Das Böse hat sie geholt. Meine Schuld.“
„Es war seine eigene Entscheidung“ sagt Theo ruhig. „ Sie haben ihn gewarnt. Wenn jemand von ihnen etwas über das Fallschirmspringen wissen will, müssen sie nicht so tun, als ob es Fallschirmspringen gar nicht gibt. Sie können ihm sagen, dass Fallschirmspringen gefährlich ist. Sie können ihm sagen, wo eine Fallschirmspringerschule ist. Wenn er hingeht, dann springt und der Schirm geht nicht auf, ist das nicht mehr ihre Schuld. Ich weiß auch, dass es gefährlich ist, die Umstände des Todes von Frank und wohl auch von Beatrix aufzuklären. Ich handle auf eigenes Risiko. Ganz bewusst.“
Theo macht eine Pause und sieht Melisande in die Augen. Dann sagt er: „Kann ich die Adresse von dem Professor haben?“
Melisande überlegt lange. Dann nimmt sie einen Zettel, kritzelt etwas darauf und legt den Zettel auf das Tischen. Sie murmelt: „Ihr solltet jetzt gehen.“
Auf dem Weg ins Hotel sind Theo und Hummel sehr schweigsam. Theo muss an eine Labormaus in einer Versuchsanordnung denken. Auf der einen Seite der Kiste sitzt die Maus, auf der anderen Seite ist das Futter. Dazwischen ist ein Labyrinth. Findet die Maus den Weg zum Futter, oder verirrt sie sich im Labyrinth und verhungert? Ich bin die Maus. Wie und warum ist Frank Stiller gestorben? Wer ist dafür verantwortlich? Die Antwort darauf ist das Futter. Dazwischen liegen Wege und Irrwege, die sich offenbar auf der dunklen Seite von etwas befinden, das sich Parapsychologie nennt. Oder Paranormalie. Am Anfang seiner Reise in diese Welt hat Frank Stiller jemanden aufgesucht. Dort muss er gewesen sein: Der Eingang des Labyrinths.
21
Am nächsten Tag machen sich Theo und Hummel zurück auf den Weg nach München. Während der Fahrt ruft Theo bei Olga im Büro an. Er teilt mit, auf dem Rückweg und gegen acht Uhr abends wieder in München zu sein. Nein, Olga müsse nicht auf ihn warten. Theo will das Gespräch gerade beenden, als Olga noch fragt:
“Sag mal, Chef, Hummel ist gestern nicht gekommen. Wissen sie, wo der steckt?“
Theo will gerade sagen, dass Hummel neben ihm im Auto sitzt, als die Funkverbindung abbricht. Egal, denkt Theo, das kann ich ihr auch morgen erzählen. Dann ruft er Ruth Waldau auf ihrer privaten Handy-Nummer an, die sie ihm in Germering gegeben hat.
„Frau Waldau, hier ist Strack. Ich bin gerade auf dem Weg von Graz nach München. Ich habe dort einige Neuigkeiten erfahren, die ich ihnen gerne erzählen möchte. Nein, nicht hier am Telefon. Kommen sie heute Abend in mein Büro. Um neun müsste ich sicher wieder dort sein. Passt? Gut, dann bis heute Abend.“
Nach den üblichen Tankpausen schaffen es Theo und Hummel tatsächlich, gegen acht Uhr zurück im Büro zu sein. Theo zwängt den Grand Am in die Garage und sagt dann:
„Hummel, geh schon mal rauf ins Büro und stell meine Reisetasche dort ab. Ich muss noch schnell zu Ossi, eine Flasche Cardenal Mendoza besorgen. Ich komm dann gleich nach.“
Er drückt Hummel die Büroschlüssel in die Hand. Hummel ist stolz. Zum ersten mal darf er die Büroschlüssel haben. Und überhaupt, die tolle Reise mit dem Chef! Dass er bei einer so wichtigen Recherche dabei sein durfte, erfüllt ihn mit großer Zuversicht, einmal ein großer Detektiv zu werden. So wie Humphrey Bogart in den alten Filmen der schwarzen Serie. Wie in Hollywood.
Von diesen Gedanken beschwingt hat Hummel den vierten Stock erreicht. Er schließt die Tür auf und tritt ein. Die Tür von Theos Büro ist nur angelehnt, aus dem Zimmer fällt Licht. Hat Olga vergessen abzuschalten? Hummel schließt die Tür zum Gang, stellt die Reisetasche auf den Boden und betritt Theos Büro. Hinter dem Schreibtisch sitzt ein Mann, den Hummel noch nie gesehen hat. Sein Aussehen und Habitus haben etwas militärisches, er sieht aus wie ein General in Zivilkleidung. Sein Gesichtsausdruck ist überrascht, so, als habe er jemand anderen erwartet.
Hummel steht da wie angewurzelt. Das ist sein Fehler. Wäre er ohne zu zögern davongerannt, hätte er vielleicht noch eine Chance gehabt. So aber sieht er sprachlos, wie der Mann seine rechte Hand unter dem Schreibtisch hervorzieht. Aus der Bewegung heraus legt er mit einer großen Pistole auf Hummel an. Die beiden ploppenden Geräusche aus dem Schalldämpfer hört Hummel schon nicht mehr. Er ist tot, bevor sein Körper auf dem Boden aufschlägt.
Wer zum Teufel war das denn, denkt Sebastian Carras verärgert. Aus den abgehörten Telefonaten war nicht zu erkennen, dass Strack Begleitung hat. Egal, er kann jetzt nicht länger warten. Dann eben das nächste Mal. Carras steigt über Hummels Leiche und verschwindet.
22
Drei Stunden später bauen die Männer von der Spurensicherung die Halogenstrahler ab und packen ihre Geräte in die Koffer. Als sie abgezogen sind, bleiben nur Kommissar Hans Baer, Theo und Ruth Waldau, die ahnungslos dazugekommen war, am Tatort zurück. Baer kocht vor Wut, er kann sich nur mühsam beherrschen.
„Theo, eins schwöre ich dir: Wenn du mir jetzt nicht sagst, was hier Sache ist, sorge ich dafür, dass du deine Lizenz verlierst. Ich werde dafür sorgen, dass du wegen ein paar der alten Geschichten in den Knast kommst. Und ich werde dafür sorgen, dass du zu dem schlimmsten Typen, den du je hinter Gittern gebracht hast, in die Zelle gesteckt wirst.“
Theo weiß genau, dass das keine leeren Drohungen sind. So wie er Baer kennt, bringt der so was durchaus fertig. Man muss wissen, wann man verloren hat.
“Also gut“ seufzt er. Baer guckt fragend zu Ruth Waldau hinüber. „Frau Waldau kann dableiben“ sagt Theo. Er weiß immer noch nicht, wie der Mord mit der Stiller-Sache zusammenhängt. Er kippt sich erstmal einen dreifachen Cardenal Mendoza hinter die Binde. Dann fängt er an zu erzählen: Vom Besuch der Stillers, dem Südamerikaner, seinem Verdacht auf die Inszenierung von dessen Tod, der Spur in den Euro-Industriepark, dem Besuch in Germering, dem Treffen mit Melisande. Dieses Treffen sei aber leider ergebnislos verlaufen, lügt er dann. Die Sache will er doch noch lieber für sich behalten.
Als er fertig ist, sagt Baer grimmig: „Dass du mich aus dem Fall Stiller heraushalten willst, kann ich ja gerade noch verstehen. Aber die Geschichte mit dem Euro-Industriepark? Das hört sich überhaupt nicht nach Hokuspokus an. Das ist schlicht und einfach irdische Schwerkriminalität. Wo soll da der Zusammenhang sein?“
Eigentlich hat er Recht, denkt sich Theo. Da war ich wohl etwas vernagelt.
„Theo“ sagt Baer, „irgendjemand will dich aus dem Weg räumen, aber warum? Entweder du weißt etwas, was du nicht wissen darfst, oder du hast jemandem etwas Furchtbares angetan, für das du jetzt büßen sollst. Wie steht´s damit? Vor Jahren bei dem Sparkassenraub ist einer der Täter, Dragan Jukovic, vor der Verhaftung erschossen worden, mit einer unbekannten Waffe. Ich werde bis heute das Gefühl nicht los, dass dir die Hintergründe dieser Geschichte nicht ganz unbekannt sind. Könnte aus dieser Richtung etwas kommen?“
„Kann ich mir nicht vorstellen“ antwortet Theo. „Selbst wenn ich mit der Sache etwas zu tun haben sollte, was ich selbstverständlich nicht habe,“ - er lächelt hintergründig- „ Jukovic war ein Einzelgänger, seine gesamte Familie ist damals im Balkankrieg umgekommen. Keine rachsüchtige Ehefrau, die mir ans Leder will. Hans, ich weiß wirklich nicht, wer da dahinter stecken könnte. Großes Ehrenwort.“
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