Pandora will etwas sagen, als sie von einer Stimme unterbrochen wird, die hinter dem Vorhang hervorkommt, der den Laden vom Rest des Hauses abteilt. „Pandora, bring mir die Fotos.“ Es ist die Stimme einer jungen Frau, die nicht viel älter sein kann als Pandora selbst.
Pandora huscht hinter den Vorhang und bleibt quälende Minuten lang verschwunden. Man hört leise Stimmen reden. Endlich taucht sie wieder auf, streift den Vorhang beiseite und macht eine einladende Geste. „Tretet ein, Melisande empfängt euch jetzt.“
19
Durch einen kurzen Gang gelangen sie in einen hinteren Raum. Als sie eintreten, blicken sie auf eine Szene, die selbst Theo, der schon viel gesehen hat, erst einmal sprachlos macht. Das Zimmer sieht aus, als ob Filmrequisiteur mit unbegrenzten Mitteln das Boudoir einer osmanischen Prinzessin geschaffen hätte. Orientteppiche bedecken den gesamten Boden und fast alle Wände, Räucherschalen, riesige Vasen, niedrige Messingtischchen, lederne Sitzkissen auf dem Boden, Kandelaber verbreiten schummriges Licht. Am Kopfende des Raums steht erhöht auf einem Podest ein mit üppigen Polstern bedeckter Diwan, auf dem die dickste Frau thront, die Theo jemals gesehen hat. Ihre Fleischmassen werden von einem schwarzen, goldbestickten Kaftan gnädig verborgen. Der kugelrunde Kopf mit Doppelkinn sitzt scheinbar ohne Hals auf den Schultern, die weißen Haare sind straff hinter dem Kopf zusammengebunden. Die Frau ist offenbar alt, hat aber keine Falte im Gesicht. Der absolute Hammer, durchfährt es Theo, ist aber ihre Stimme, mit der sie die beiden zum Platznehmen auf den Lederkissen auffordert. Es ist die Stimme einer jungen Frau, die Stimme, die sie vorhin durch den Vorhang gehört haben.
Wie passt das zusammen? Melisande bemerkt den ungläubigen Ausdruck auf Theos Gesicht, verzieht den winzigen Mund zu einem Lächeln und sagt:“ Wundert euch nicht über die Stimme, sie ist nur eines der vielen Geheimnisse in meinem Leben“. Dann wird sie wieder ernst. “Ihr habt meine Gehilfin angelogen. Die Menschen auf diesen Fotos werden nicht vermisst. Sie sind tot. Beatrix Waldau, vor zwei Jahren in Italien bei einem Strandspaziergang gestorben. Herzversagen, hat man gesagt. Ihr Freund, Frank Stiller vor einem Jahr in München zu Asche verbrannt.“
Theo will etwas sagen, aber Melisande spricht weiter. „Fragt mich nicht, woher ich das weiß. Ich weiß viele Dinge.“ Sie beugt sich vor und sieht die beiden durchdringend an, Hummel läuft ein Schauer über den Rücken. „Und jetzt sagt mir, weswegen ihr wirklich hier seid.“
Theo erkennt, dass er wohl nur mit absoluter Offenheit weiterkommt. Er erzählt die ganze Geschichte, angefangen vom Besuch der Stillers, und lässt auch den Anschlag auf sich nicht aus. Vielleicht besteht ja doch ein Zusammenhang. „Gut“, sagt Melisande nachdenklich, als Theo fertig ist. „Das könnte ein längeres Gespräch werden. Aber ich bin eine schlechte Gastgeberin. „Ihr wollt“-sie blickt auf die Uhr und lächelt kaum merklich- „ihr müsst jetzt sicher etwas trinken.“ Sie klatscht in die Hände. Wie aus dem Boden gewachsen steht Pandora im Zimmer. „Sperr vorne den Laden ab. Dann bringst du“-sie schaut Theo kurz intensiv an-„eine Flasche Cardenal Mendoza und ein Glas für diesen Herrn, und für seinen jungen Begleiter“-sie wendet sich Hummel zu-„ eine Flasche“-sie überlegt noch kurz-„Jägermeister?“ Hummel kann nur noch wortlos nicken, er bringt vor Verblüffung keinen Ton mehr heraus. Auch Theo ist beeindruckt. Entweder es ist ein Riesenzufall, oder sie hat uns weiß Gott wie ausspioniert, oder sie kann wirklich hellsehen, denkt er. Melisande genießt die Situation sichtlich. Pandora serviert die Getränke, vor Melisande stellt sie ungefragt ein Glas mit grünlicher Flüssigkeit ab. Theo will lieber nicht wissen, worum es sich da handelt. Detektiv und Lehrling nehmen je einen kräftigen Schluck, um den Pegel wieder hochzufahren. Melisande nippt an ihrem Glas, schaut die beiden lange an und sagt: „Dann will ich euch einmal eine Geschichte erzählen.“
20
„Ich habe gewusst, irgendwann wird jemand kommen und nach diesen jungen Menschen fragen. Ich habe diesen Tag gefürchtet. Aber gestern Nacht habe ich im Traum einen großen, grünen Wagen gesehen, auf dem Weg hierher. Da wusste ich, jetzt ist es soweit.“ Theo und Hummel schauen sich an.
“Frank und Beatrix könnten beide noch leben, wenn ich damals geschwiegen hätte. Diese Schuld werde ich den Rest meines Lebens mit mir herumtragen.“ Melisande nimmt einen Schluck von dem grünlichen Zeugs, Theo und Hummel schenken sich nach. Dann fährt sie fort.
„Vor knapp drei Jahren war hier in der Stadt ein Kongress über Esoterik und Parapsychologie, an dem ich teilgenommen habe.“ Theo fragt sich, ob Melisande ihren Diwan in den Versammlungsraum mitgenommen hat.
„Dabei habe ich Frank Stiller kennen gelernt. In unserer paranormalen Wissenschaft, die von der Schulwissenschaft nicht anerkannt und verlacht wird, tummeln sich leider sehr viele Schwindler und Scharlatane. Gewissenlose Betrüger, die an den Wünschen und Ängsten der Menschen viel Geld verdienen. Dagegen habe ich immer schon gekämpft. Frank Stiller hat zu diesem Thema auf dem Kongress recherchiert. Das hat uns zusammengebracht. Ich habe Frank erzählt, ich könnte ihm Informationen über einige der übelsten Schwindler der Branche geben. Deswegen hat er mich am nächsten Tag hier besucht. Und dabei sind wir ins Reden gekommen.“
Melisande seufzt und redet weiter. „Es ist immer dasselbe. Die meisten Menschen sind gerade vom Bösen fasziniert. Es zieht sie regelrecht an. So war das auch bei Frank. Er kam plötzlich auf die dunklen Seiten in unserem Metier zu sprechen. Verwünschungen, Voodoo-Zauber, Dämonen, Ferntötungen, Untote, Geisterbeschwörungen, Vampire, sechster Sinn, das ganze Kabinett des Grauens. Ich habe ihm gesagt, dass es so etwas natürlich gibt, ich mich aber damit nicht befasse und niemals befassen werde. Die Materie ist sehr gefährlich und kann völlig außer Kontrolle geraten, wenn man nicht genau weiß, was man tut. Es vergiftet Körper und Seele von allen, die sich darauf einlassen. Unumkehrbar. Man wird es niemals wieder los. Es frisst einen mit Haut und Haaren.“
Theo spürt bei diesen Worten, wie im plötzlich kalt wird. Ein komischer Geschmack breitet sich in seinem Mund aus. Er sieht zu Hummel hinüber, der die Schultern hochgezogen hat, leicht zittert und hastig einen Schluck Jägermeister nimmt. Zufall? Theo schaut Melisande an. Ihr Blick sagt ihm, dass sie genau weiß, was Theo im Moment empfindet. Sie fährt fort.
“ Es gibt nur sehr wenige Menschen, die in der Lage sind, sich ernsthaft mit der dunklen Seite zu befassen, ohne dabei… umzukommen. Kaum jemand kennt sie wirklich. Sie bleiben unter sich. Aber ihre Seelen sind verloren und sie bringen nur Unheil über jeden, der sich mit ihnen abgibt. Oder auf sie hereinfällt. Ich kenne jedenfalls keinen und will auch nie einen kennen lernen.“
Melisande trinkt etwas von der grünlichen Flüssigkeit. Es ist totenstill im Raum, man hört Theo und Hummel kaum atmen. Melisande scheint das nicht zu überraschen. „Ich hätte damals aufhören sollen“ sagt sie traurig „ aber Frank war ein sehr neugieriger Mensch und hartnäckig, wenn er sich in etwas verbissen hatte. Er hat nicht lockergelassen, wollte unbedingt mehr wissen, wollte eine Reportage darüber schreiben. Wenn ich schon niemand kenne, der sich mit der dunklen Seite befasst, vielleicht kenne ich jemand, der einen kennt? Und da habe ich ihm…eine Adresse gegeben. Das hätte ich niemals tun dürfen.“
„Was für eine Adresse?“ fragt Theo.
„Die Adresse von einem Professor in Deutschland. Er befasst sich nicht aktiv mit der dunklen Seite. Aber er ist von allen, die auf der richtigen, der guten Seite stehen, derjenige, der mit Abstand am meisten über die dunkle Seite weiß. Er kennt auch einige Personen, die dort…aktiv sind.
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