Seit es im ersten Buch Mose, Kapitel 8, Vers 4 heißt: „Am siebzenten Tage des siebenten Mondes ließ sich der Kasten nieder auf das Gebirge Ararat“, ist der Berg, an dem die Arche Noah gestrandet sein soll, in unserem Kulturkreis unter dem Namen Ararat bekannt. Im nur einen Steinwurf entfernten Iran spricht man von Noahs Berg und nennt ihn Kuh-i-Nuh. In dem inzwischen wieder unabhängigen, vom christlichen Glauben geprägten Armenien, auf das der Ararat seit ewigen Zeiten seinen bis zu 150 Kilometer langen Schatten wirft, sagt man Masis, der Erhabene, wenn man von diesem Berg spricht. In der Türkei, auf dessen Hoheitsgebiet der heilige Berg heute liegt, heißt der erloschene Vulkan Agri dagi, was mit steiler Berg aber auch mit Kummerberg übersetzt werden kann. Zwei Namen, die jedem einleuchten, der sich auf den 5165 Meter hohen Steinkoloss geschleppt hat. Der legendäre Berg, der im Grenzgebiet zum Iran, der ehemaligen Sowjetunion und im Siedlungsgebiet der Kurden sein ganzjährig schneebedecktes Haupt gen Himmel reckt, war über viele Jahre hinweg für Besucher ein verbotenes Terrain. Warum, weiß niemand so genau. Mal mussten Kurden für das Besuchsverbot des Noah-Berges herhalten, die durch Geißelnahme von Touristen versuchen könnten, die Weltöffentlichkeit auf ihre Probleme aufmerksam zu machen, dann waren es die missliebigen Nachbarn, die sich vor dem tiefen Einblick in ihre Territorien von der Natur-Aussichtsplattform angeblich belästigt fühlten.
Wie dem auch sei, inzwischen kann der Berg, von dem die Armenier glauben er sei „die Mutter der Welt“ und aus diesem Grund nicht bezwingbar trotz der Berggeister, die dort ihr Unwesen treiben sollen, wieder besucht werden. Bevor einem die Bergkobolde in die Quere kommen können, muss man es erst einmal mit verschiedenen türkischen Behörden aufnehmen. Diese vergeben nämlich die Besteigungsgenehmigung und das sogar gebührenfrei, was um so erstaunlicher ist, da ja doch einige Dienstleistungen geboten werden. Wir sind jedenfalls guten Mutes, als wir bei der Jandarma, einer Art Polizei, vorsprechen, schließlich befinden sich in unserem Gepäck nicht nur Steigeisen und Eispickel, sondern bereits die Monate vorher beantragte Genehmigung. Die Sache läuft gut an, denn die Personalien sind schnell aufgenommen. Selbst um unsere Sicherheit macht man sich hier scheinbar ernsthafte Sorgen. Wer Noahs Berg besteigen möchte, muss ein Handy dabei habe, Erfahrung und restliche Ausrüstung dagegen interessiert keinen. Daneben möchte die Polizei noch die Blutgruppe und den Rhesusfaktor wissen. Die nächsten vier Stunden verbringen wir wartend im dürftigen Schatten einiger junger Bäume, immerhin in Sichtweite unseres majestätischen Ziels, das sich uns wolkenfrei von seiner besten Seite zeigt. Warten auf ein Zeichen des Kommandanten, dass es weitergeht. Es geht nicht voran, weil just zu diesem Zeitpunkt drei Ausländer ohne Genehmigung hier auftauchen, die Polizei uns aber nur alle gemeinsam zum Ausgangspunkt unserer Bergbesteigung begleitet. Unsere türkischen Leidensgenossen vertreiben sich die Zeit mit Gesang, Klimmzügen und Liegestützen in allen Variationen, wie sie vermutlich beim Militärdienst gelernt wurden, Demonstrationen ihrer guten Fitness. Türkische Bürokratie kann einem das Fürchten lehren aber auch ungeheuer sympathisch sein. Brauchten wir mehrere Monate, um die Besteigungsgenehmigung zu erhalten, geht es plötzlich vor Ort innerhalb von vier Stunden. Eine filmreife Vorführung gibt es gratis dazu. Da treten plötzlich 32 Männer mit ihren Schnellfeuerwaffen auf dem tristen Kasernenhof an, ein paar Befehle, alle springen in ihre Autos und los geht die Fahrt in Richtung Berg. Wen stört es da schon, dass inzwischen wieder die Zeit des Staubsturmes gekommen, unser Ziel fast nicht mehr zu erkennen ist und wir schon nach wenigen Minuten Fahrt auf dem offenen Lastwagen total eingestaubt sind. Auf 2000 Meter ist endlich der Weg für den Lastwagen nicht mehr befahrbar. Unsere Besteigung des Ararats kann beginnen. Bis unser Gepäck auf zwei Pferden verstaut ist, gibt unsere Eskorte noch einmal eine Kostprobe ihres Könnens. Bei ihrer Abschiedsvorstellung liegen die Soldaten um uns herum im Gelände mit ihren Waffen im Anschlag und sichern uns vor einem unsichtbaren Feind. Don Quixote lässt grüßen.
Obwohl der Ararat bereits im Jungtertiär entstanden ist und während dieser Zeit seine aktive Phase hatte, sind die Hänge dieses Gebirgsstockes von 128 Kilometer Umfang heute selbst am Fuße vollkommen baum- und strauchlos. Nichts, was auch nur einen Quadratzentimeter Schatten spenden könnte. Früher muss es hier anders ausgesehen haben, denn nach arabischen Quellen war der Masis wald- und wildreich. Wildesel, Löwen, Hirsche und Wildschweine streiften einst durch die Gegend. Die karge Vegetation aus Gräsern und Kräutern, deren Duft einem immer wieder in die Nase steigt, wird während der Sommerzeit von Halbnomaden genutzt, deren Lager sich bis auf 3000 Meter die Berghänge hinaufziehen, wo ihre Herden aus Schafen und Ziegen weiden. Auffallend sind riesige Hunde, die wenn sie auf der Hinterhand sitzen selbst einen Esel an Höhe überragen. Die Wachhunde sollen die Tierherden vor Wölfen schützen, die zumindest dem Erstbesteiger über den Weg liefen: „Ich sah fünf Wölfe gravitätisch den Abhang des Ararat herabsteigen und ein der kleinen Herde abgejagtes Kalb vor sich hertreiben.“ An den wenigen Lagern, die wir passieren, leben die Menschen nicht mehr in Zelten aus Ziegenhaar, sondern in Unterkünften, die das Zeichen des türkischen Roten Halbmondes tragen. Alle Menschen, aber besonders die Kinder, leiden mehr oder weniger stark unter Sonnenbrand im Gesicht und man fragt nach Sonnenschutzmitteln. Dem Gast wird Ayran, ein salziges Yoghurt-Wassergetränk angeboten. Wir schlagen unser erstes Lager in etwa 3400 Meter Höhe auf. Ein schönes, grünes Fleckchen zwischen Bergen unterschiedlichster Steinbrocken, die von früheren Besuchern als „Schutt, Geröll, Felsentrümmer und eine einförmige grauenhafte Öde“ empfunden wurden. Das grüne Gras gaukelt zwar noch ein Paradies vor, allerdings ein gefährdetes, wie das längst ausgetrocknete Bachbett verdeutlicht. Auf dem extrem trockenen Vulkan existieren nur zwei Quellen. Wer hier Wasser benötigt, muss sich mit Schmelzwasser zufrieden geben, das Schneefelder liefern.
Die an den Berghängen erwärmte Luft steigt im Laufe des Tages nach oben, kondensiert und bildet Wolken, die den Gipfel meistens verhüllen. Fertig ist der Heiligenschein des Noah-Berges. Am nächsten Tag erreichen wir unser Hochlager in 4175 Meter Höhe. Auf dem Weg dorthin leuchten Büschel von Glockenblumen, Vergissmeinnicht, Kamille, Steinbrech und Hornkraut aus den Geröllhalden hervor. Über uns hebt sich der vergletscherte Gipfel, jetzt schon in greifbarer Nähe, vom blauen Himmel ab. In einer von der Spitze herabführenden Schlucht donnern immer wieder Felsen unter Produktion großer Staubwolken und eines akustischen Feuerwerks ins Tal. In der Abendsonne leuchtet der Vulkankegel des benachbarten kleinen, 3925 Meter hohen, Ararat. Die Spitzen beider Berge liegen 13 Kilometer auseinander und sind durch einen Bergsattel miteinander verbunden, auf dem die Arche einst gestrandet sein soll. Friedrich Parrot, der den Ararat nach einem dreimaligen Anlauf am 27. September 1829 als erster Europäer bestieg, hielt den Gipfel aus naturwissenschaftlicher Sicht durchaus geeignet für die Landung von Noahs Boot. Er stellte ernsthafte Überlegungen an, wo der „Kasten“ aus der biblischen Geschichte gestrandet sein könnte. Die Eisschichten auf dem Ararat erschienen ihm dick genug, um die gesamte Arche zu verbergen. Die armenischen Christen glaubten dies schon immer, zumal ja der Klosterbruder Jacob zwar bei seinem Versuch den Berg zu besteigen, scheiterte, ihm der Herr aber für sein Beharrungsvermögen im Schlaf ein Stück Archenblanke in die Hand drückte. Hand des Mönchs und Holz der Arche landeten als Reliquie im Kloster Etschmiadsin. 1955 fanden Archeforscher in 4200 Meter Höhe einen von „Lavastaub im gefrorenen Moränen Schutt konservierten behauenen Holzbalken“, dessen Alter mit 5000 Jahren bestimmt wurde. Für die Arche-Anhänger natürlich ein neuer Beleg ihres Glaubens. War es einst für die Armenier geradezu ein Verbot ihrer Kirche, den Noahberg zu besteigen, ist die Gipfeltour inzwischen regelrecht zu einer Pilgerreise geworden. So finden wir auf dem Gipfel noch die Überreste des letzten Gottesdienstes. Ein beliebtes Mitbringsel der Armenier war Gletschereis vom Gipfel, das im Kloster zu einem begehrten, weil heiligen Wasser schmolz. Während Parrot und seine Gefährten den Gipfel nur durch mühsames Stufenschlagen in den Eismantel der Bergspitze erklimmen konnten, haben wir es mit Steigeisen eigentlich recht gemütlich. Über einen Ausrutscher schreibt Parrot: „..mein Weg, den ich fast besinnungslos zurücklegte, mochte wohl eine halbe Werst betragen haben und endete zwischen Lavatrümmern nicht weit vom Rande des Gletschers.“ Unachtsamkeit verzeiht der Berg aber heute natürlich ebenso wenig wie damals. Am Tag unserer Ankunft berichtet eine Zeitung von einem jungen Mann, dessen Leben in einer Gletscherspalte endete. Ihr Ende fanden ebenfalls zahlreiche Insekten, die sich aufmachten, den eisigen Berggipfel zu überfliegen. Im Gletschereis leuchten ihre bunten, tiefgefrorenen Tierleiber als winzige Mahnmale der Überheblichkeit. Parrots Team schleppte sich mit einem massiven Holzkreuz und einer allein 27 Pfund schweren Bleiplatte ab. Beides sollte auf dem Gipfel installiert werden und von fern und nah auf die Großtat und ihren Auftraggeber hinweisen. Auch da hat sich einiges verändert. Unsere türkischen Begleiter entfalten auf dem höchsten Berg der Türkei eine Fahne ihrer Firma, die Filter für Autos herstellt. Um die Kunde von der Besteigung zu verkünden, sind weder Bleiplatten noch Kreuz nötig, mit Handys wird die Botschaft vom Sieg über den Gipfel in alle Welt gejagt. Erst nach dem obligatorischen Gipfelphoto vor der türkischen Flagge schallen doch noch ein paar Allah-Rufe über das tief unten liegende Land. Parrot dagegen genehmigte sich auf dem Gipfel etwas Wein, der aus Trauben gekeltert wurde, deren Rebstockvorfahren Noah selbst angepflanzt haben soll.
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