Der Mann brüllte jetzt auch auf und Bachmann lag regungslos auf seinem Bett. Nach einer Weile wurden drüben wieder gekichert, und dann hörte der Mathematiker einen Korken ploppen. Leises Stimmengemurmel von nebenan schläferte Bachmann zunächst ein, aber nur so lange, bis die Frau wieder zu stöhnen begann. Bei der Variation ihrer Anfeuerungsrufe war die Frau durchaus erfinderisch, denn jetzt rief sie ihrem Partner „Ich will richtig durchgevögelt werden, richtig, verstehst du das, du alte Sau, du!“ zu.
Irgendwann war Dr. Rüdiger Bachmann eingeschlafen, um dann abermals durch heftige Geräusche aus der Nachbarwohnung geweckt zu werden. Beim Blick auf die Uhr stellte er fest, dass es schon 0 Uhr 17 war. Erst kurz nach 1 Uhr kehrte dann endgültig Ruhe ein. Am nächsten Morgen fühlte sich Bachmann wie gerädert, aber tröstete sich damit, dass der Kerl von nebenan wohl sein Pulver für eine ganze Weile verschossen haben müsste. Der Abend verlief diesmal ruhig und Bachmann schlief fest und traumlos. Am nächsten Tag wendete sich das Blatt aber wieder, denn genau um 22 Uhr 8 begann das Liebesspiel nebenan erneut. Der Mathematiker hielt sich die Ohren zu, um wenigstens etwas Ruhe finden zu können, aber wie schon bei der vorherigen Veranstaltung ging es nebenan wieder über drei Runden. Bachmann war naturgemäß in Statistik firm und erfasste unter zu Hilfenahme eines Zettels und Stiftes die Anzahl der „Ereignisse“ in den folgenden 2 Wochen. Das Ergebnis war für ihn ernüchternd. Aller zwei Tage kam es zu drei „Ereignissen“. Ausreißer hatte es keine gegeben.
Dr. Rüdiger Bergmann traf das Paar am nächsten Tag beim Nachhauskommen vor dem Haus, und stellte es zur Rede.
„Wie bitte“ fragte die Frau verständnislos „wir sollen unsere „obszönen Handlungen“ einstellen oder wenigstens reduzieren? Drei „Ereignisse“ pro Nacht wären zu viel des Guten? Was geht Sie das denn überhaupt an? Ham Sie einen an der Klatsche, hä?“
„Hör mal zu Kumpel“ ging der über und über tätowierte Mann den Mathematiker an „wann, wo, und wie oft wir bumsen, geht dich einen alten Scheißdreck an! Verstanden? Und jetzt sieh zu, dass du Boden gewinnst! Oder willst du ein paar blaue Augen riskieren, du Vogel?“
Das war der Moment, in welchem Dr. Rüdiger Bachmann den Entschluss traf, sich eine andere Bleibe zu suchen. Es sollte nicht wieder eine Mietwohnung sein, wo er Störungen ausgesetzt wäre, sondern etwas Eigenes, Ruhiges, wo er gedankenversunken an den Formeln arbeiten könnte. In Wildbach gab es ein augenscheinlich gutes Angebot.
Nach der Meinung von Regierungsdirektor Dr. Jürgen Ballauf trieben sich in der öffentlichen Verwaltung nur Tagediebe und Drückeberger herum, ihn natürlich ausgenommen. Seine Vorgesetzten hielt er die Bank weg für vollkommen unfähig, seine Untergegeben für faul, und vor allem für minderbemittelt. Dass er in den Augen seines Referatsleiters und seiner Mitarbeiter genau diese Eigenschaften selbst ganz hervorragend wiederspiegelte, wusste er nicht. Jedenfalls ging er davon aus, dass nur er selbst überhaupt in der Lage wäre, die ganze Komplexität des Bestattungswesens in der Landeshauptstadt überblicken zu können. Unter diesem Blickwinkel sah er sich als intellektuellen Vordenker, und beschäftigte sich demzufolge kaum mit dem Tagesgeschäft. Er versuchte fortlaufend neue Ideen zu entwickeln, wie man „die Maschine am qualmen“ halten könnte, wie er gern mit schlechtem Humor formulierte. Er betrachtete dieses Bonmot als ausgesprochen witzig, denn damit spielte er auch auf die Verantwortung des Referats für den ordnungsgemäßen Betrieb der Krematorien an. Als er eines Tages mit einer Vorlage beim Referatsleiter hochkant rausgeflogen war, verstand Ballauf die Welt nicht mehr. Er hielt seinen Vorschlag, Seebestattungen in der Elbe anzubieten, für bahnbrechend. Sein Vorgesetzter hatte ihn jedoch eigenartig angesehen und gefragt, ob er noch ganz bei Troste wäre. Ballauf wollte sich das als promovierter Mann nicht bieten lassen, der Referatsleiter konnte lediglich einen Abschluss als Diplom-Verwaltungswirt vorweisen. Unter diesem Blickwinkel wäre es eigentlich angebracht, ihm, Ballauf, die Leitung des Referats zu übertragen. Wenn er gefragt wurde, worüber er denn promoviert hätte, äußerte sich Jürgen Ballauf immer ausweichend.
Die Sache war ihm allerdings ein bisschen peinlich, denn er hatte sich 1986 mit dem Thema „Die führende Rolle der Partei im kommunalen Verwaltungsapparat“ auseinander gesetzt. Wie damals üblich, hatte Ballauf eine Zitierwut der Reden von Honecker und anderen damaligen Größen ergriffen, und selbstverständlich durften auch Marx, Engels und Lenin in seinem Werk nicht fehlen. Seine Arbeit wurde wegen schwerer inhaltlicher Mängel lediglich mit „Rite“, also mit gerade noch ausreichend, bewertet. Da sich die Zeiten aber geändert hatten, erklärte er auf die Nachfragen dann, sich mit der Verbesserung der Verwaltungsorganisation beschäftigt zu haben. Da er schon vor 1990 in der Stadtverwaltung gearbeitet hatte blieb er von den rauen Winden des Umbruchs der gesamten Wirtschaft verschont. Ballauf verhielt sich wie ein Chamäleon. Wo er sich sicher und anderen überlegen fühlte markierte er den großen Sachverständigen, wenn er jemanden aus der „Obrigkeit“ entgegen treten musste, dienerte er. Er verhielt sich also wie ein neuzeitlicher Diederich Heßling und verkörperte alle Eigenschaften eines Untertanen. So fuhr er aber trotzdem nicht schlecht, denn das Buckeln nach oben machte er durch kräftige Tritte nach unten locker wieder wett. Auch seinen Sprachgebrauch passte er den konkreten Situationen geschmeidig an. Während Dr. Jürgen Ballauf geflissentlich „aber natürlich, Herr Ministerialdirigent“ von sich gab, hatte er sich über die Jahre hin gegenüber seinen Mitarbeitern den Ruf eines Cholerikers erarbeitet.
„Was erlauben Sie sich, mir so einen Schwachsinn vorzulegen“ entrüstete er sich oft, wenn ihm ein Mitarbeiter eine Vorlage erläutern wollte, von der Ballauf rein gar nichts verstanden hatte. Dass es dabei um sein ureigenes Arbeitsgebiet ging, blendete er in diesen Momenten vollständig aus.
„Überarbeiten Sie die Sache bis morgen früh, pünktlich 9 Uhr ist Wiedervorlage“ herrschte er die eingeschüchterten Leute dann an.
Auch seine Leute hatten eine passende Überlebensstrategie ausgearbeitet, und diese sah so aus, dass sie nur einige Wörter änderten oder Sätze umstellten. Ballauf zeichnete immer alle Vorlagen nach dem zweiten Anlauf ab.
Sofern er keine Termine bei der „Obrigkeit“ hatte verlief der Arbeitstag von Dr. Jürgen Ballauf nach einem festen Schema. 9 Uhr nahm er an seinem Schreibtisch Platz und sah die Post durch. Er setzte lediglich sein Signum auf die Schriftstücke. Bemerkungen, was mit diesem oder jenem Vorgang zu geschehen hatte, nahm er nicht vor. Das war schließlich Sache seiner Leute, aus den Schriftstücken die entsprechenden Schlüsse zu ziehen. Nachdem er einige Zeit im Internet gesurft hatte ging Ballauf in die Kantine, um einen Kaffee zu trinken. Die Zeit bis zum Mittagessen überbrückte er mit Kontrollgängen durch die Zimmer seiner Mitarbeiter. Pünktlich 12 Uhr war er wieder in der Kantine zum Mittagessen anwesend. Danach ging er zum Parkplatz der Dienstfahrzeuge und bestieg das zum Referat gehörende Fahrzeug.
Dr. Jürgen Ballauf hatte einige Lieblingsziele. Der große, nah der Elbe gelegene Friedhof mit dem prächtigen Krematorium, war seine Nummer Eins. Hier konnte er unter den Kronen der alten Bäume und auf den schattigen Wegen Entspannung vom Arbeitsstress finden. An einer abgelegenen Stelle der weitläufigen Anlage nahm er dann immer für eine Zigarettenlänge Platz und rauchte entspannt. Danach lief er noch ein bisschen kreuz und quer über den Friedhof und sah sich die alten Grabsteine an. Abschließend ließ er sich noch kurz im Krematorium blicken, und begab sich langsam zum Parkplatz zurück. Um diese Zeit setzte schon immer zeitiger Feierabendverkehr ein, aber Ballauf hatte keine Eile. So zuckelte er entspannt und Radio hörend über die verstopften Straßen, um dann gegen 17 Uhr wieder in seiner Dienststelle einzutreffen. Dort muddelte er noch ein bisschen rum, und verließ dann das Büro. Zu Hause sah er Fern und erbaute sich an den Soaps.
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