Frank Beyer verließ das Haus und postierte sich am Grundstückszaun. Regierungsdirektor Dr. Jürgen Ballauf bewegte sich auf der anderen Straßenseite und vermied es, zu Beyer hinzusehen. Ballaufs Hund war gut 10 Meter vor seinem Besitzer unterwegs und hob regelmäßig das Bein. Auf einen Pfiff seines Herrn kam er gehorsam zu diesem zurück und ließ sich anleinen. Mann und Hund befanden sich jetzt auf gleicher Höhe mit Frank Beyer, aber auf der anderen Straßenseite. Ballauf stoppte, und der Hund nutzte die Gelegenheit, um erneut das Bein zu heben. In diesem Augenblick schaute Ballauf triumphierend zu Beyer hin und drehte dann um.
Auf die Baugrundstücke in Wildbach hatte es einen regelrechten Run gegeben. Die Bauern hatten aus ihrer Sicht ordentliche Preise für den Quadratmeter verlangt, aber mehr aus dem Bauch heraus entschieden, und eine Analyse der üblichen Kosten unterlassen. Sie lagen knapp 8 Prozent unter den gängigen Werten, und das machte bei der im Eigenheimgebiet durchschnittlichen Grundstücksfläche von 800 Quadratmetern schon eine ganze Menge aus. Der Bebauungsplan wies die Gesamtfläche in Form eines sich zum Waldrand hin immer mehr verbreiternden Dreiecks aus. Vorn an der Straße waren die Preise naturgemäß am niedrigsten, zum Wald her nahmen sie zu. Frank Beyer hatte sich ein Grundstück gesichert, welches direkt am Ende des Dreiecks und somit am Wald lag. Es war exakt 834 Quadratmeter groß. Er konnte also davon ausgehen, dass er zumindest an der dem Wald zugewandten Seite keinen Nachbarn haben würde, sondern einen schönen Blick in die Natur. Dass der Ort Wildbach seinen Namen zu Recht trug, ahnte er damals nicht. Jedenfalls besichtigte er das Gebiet und sein Grundstück regelmäßig, denn es war erst einmal wichtig, sich ein Bild von der ganzen Anlage zu verschaffen, und dann über den Haustyp nachzudenken. Eile verspürte er nicht, er betrachtete schon allein den Erwerb des Grundstücks als Kapitalanlage. Für ihn lief momentan alles rund und es kam noch besser.
Manchmal gönnte er sich den Luxus eines Opernabends in der Spielstätte in der Landeshauptstadt. An diesem Abend saß er neben einer jungen Frau, die der Musik mit geschlossenen Augen folgte. Beyer schielte ab und an zu ihr herüber und sah, dass ihr an einer für ihn besonders schönen Stelle Tränen über die Wangen liefen. Das berührte ihn so stark, dass er sie in der Pause ansprach und auf ein Glas Sekt einlud. Jana Brettschneider war es als Psychologin gewohnt, mit seltsamen Verhaltensmustern der Menschen konfrontiert zu werden, und nahm die Einladung lächelnd an. Der Mann redete sich begeistert über die Struktur der Oper in Rage und sprudelte seine Interpretationen verschiedenster Passagen nur so heraus. Er drückte sich aus ihrer Sicht sehr gewählt und intellektuell aus, und es war ein Vergnügen, ihm zuzuhören.
Frank Beyer erregt in das Haus zurück.
„Eines Tages bringe ich dieses Arschloch noch um“ sagte er wütend „der hat mich wie so oft schon wieder provoziert. Lässt seine Promenadenmischung direkt gegenüber bei Neumanns an den Zaun schiffen und grinst mich dann auch noch an. Na gut, der Neumann ist ja auch nicht besser, von mir aus kann die Töle dort auch noch hin kacken. Am besten wäre es aber, der Bullterrier des Rappers würde diese hässliche Promenadenmischung in Stücke reißen und ihr so das Licht ausknipsen! Und diesem widerlichen Kerl gleich noch dazu den Schwanz und die Eier abbeißen!“
Jana Beyer wusste, dass ihr Mann an diesem Abend noch eine ganze Weile Zeit brauchen würde, um sich wieder einzukriegen. So richtig wunderte sie das nicht, denn in der letzten Zeit war an ihrem neuen Wohnort in Wildbach schon einiges gründlich schief gelaufen.
Das betraf auch etliche andere Neuankömmlinge in der Eigenheimsiedlung.
Der verschrobene Mathematiker
Die Eleganz der komplizierten Formel begeisterte Dr. Rüdiger Bachmann immer wieder aufs Neue. In seinem Wohnzimmer stand statt eines Fernsehers eine Tafel, wie man sie früher aus Schulen kannte. Bachmann sorgte stets dafür, dass ausreichend weiße und farbige Kreide vorhanden, und der Schwamm zum Wegwischen nicht schon ausgefranst war. Mit weiß brachte er erst den Entwurf der Formel an die Tafel, um dann in genauer Sichtachse zur Tafel zunächst in einem Sessel in gut 2 Meter Abstand Platz zu nehmen. Rechts neben dem Sessel befand sich ein kleiner Beistelltisch, links ein absolut identisches Möbel. Niemals wäre es Bachmann in den Sinn gekommen, unterschiedliche Stile zu mischen, und so bestand die Ausstattung seines Wohnzimmers weiterhin nur aus einer Regalwand des gleichen Möbelherstellers, in der sich Unmengen von Fachbüchern aneinander reihten. Diese spartanische Ausstattung nahm Bachmann nur im Unterbewusstsein wahr, denn er versank jeden Abend in die Lösung mathematischer Probleme.
Mit diesen hatte er auf Arbeit als gut bezahlter Entwickler von Wertpapieranlagen zwar tagein tagaus zu tun, aber er hielt das für eine recht profane Sache, die ihm zwar ordentlich Geld einbrachte, der aber jeglicher wissenschaftlicher Glanz fehlte. Ausgleich fand er nach Feierabend darin, sich ein bislang ungelöstes mathematisches Problem herauszupicken, und über dessen Lösung nachzudenken. So gegen 17 Uhr traf er im Regelfall in seiner Wohnung ein. Es war für ihn höchster Genuss, sich dann dieser Tätigkeit hinzugeben, und bei einem Glas guten Whiskys, welches links von ihm auf dem Beistelltisch stand, und einer Zigarre, welche rechts von ihm in einem Aschenbecher qualmte, hatte er schon einige ganz brauchbare Ideen entwickeln können. Bachmann ließ seine Kreationen immer einige Zeit auf sich einwirken und suchte dann Ansatzpunkte zur weiteren Verfeinerung. Leider stand er immer etwas unter Zeitdruck, denn ab 19 Uhr würde er einer hörbaren Beschallung aus der nebenan liegenden Wohnung ausgesetzt sein, weil die Leute dann dort den Fernseher in Betrieb nahmen. Unter diesen störenden Bedingungen wäre er dann nicht mehr in der Lage, sich zu konzentrieren.
Wenn Bachmann eine Idee zum Umschreiben der Formel hatte begab er sich zur Tafel und wischte den betreffenden Teil weg. Danach schrieb er die Änderungen mit grüner Kreide auf die Tafel. Wieder zurück im Sessel griff sich der Mann ein Kabel, an dessen Ende sich ein runder Knopf befand. Er drückte den Knopf, und der neben dem linken Beistelltisch auf einem Gestell angebrachte digitale Fotoapparat schoss ein Bild von der aktuellen Formel auf der Tafel. Bachmann schmauchte seine Zigarre und nippte am Whisky. Um keiner Ablenkung durch Außengeräusche ausgesetzt zu sein waren alle Fenster in der Wohnung bis mindestens 19 Uhr, also dem Beginn des Fernsehprogrammes nebenan, geschlossen. Manchmal, wenn der Mathematiker erregt an der Zigarre saugte, weil er gerade wieder einem außergewöhnlichen Gedankengang folgte, bildete sich eine Art Nebel im Raum, der den Blick auf die Tafel beeinträchtigte. In solchen Momenten schloss der Mann die Augen, und hatte somit auch noch eine eventuelle visuelle Ablenkung ausgeklammert. Wenn Bachmann dann irgendwann später das Fenster öffnete zog der Dunst in Schwaden am Haus entlang, und ein verwirrter Passant hatte auch schon einmal die Feuerwehr gerufen, weil er einen Wohnungsbrand vermutet hatte. Über dem Mobiliar in der Wohnung des Mathematikers lag überall ein leichter Film aus Ascheflocken und Kreidestaub.
Seine Nachbarn hatte Dr. Rüdiger Bachmann einige Male im Treppenhaus getroffen. Der Mann war um die vierzig, die Frau vielleicht 5 Jahre jünger, ihr Sohn so um die zwölf, dreizehn Jahre. Es reichte nicht einmal mehr zu einem förmlichen „Guten Tag“, denn Bachmann war kurz nach seinem Einzug mit ihnen aneinander geraten. Sein Wohnzimmer wies zirka 25 Quadratmeter auf, die Küche vielleicht 10, und das Schlafzimmer war ähnlich groß. Bachmann stellte also gegen 19 Uhr seine Überlegungen ein und studierte danach noch bis kurz vor 22 Uhr Fachbücher. Dann ging er ins Bett. Am zweiten Tag nach seinem Einzug hörte er durch die offensichtlich dünne Wand, dass sich wohl das Schlafzimmer seiner Nachbarn dahinter befand. Dazu bedurfte es keiner besonderen Überlegungen, denn Bachmann hörte das Paar erst eine Weile herumkichern. Dann knarrte das Bett vernehmlich, und bald darauf fing die Frau an laut zu stöhnen. Rüdiger Bachmann lebte vollkommen asexuell und hatte auch keinerlei Erfahrungen mit Frauen gesammelt, geschweige denn, jemals mit einer geschlafen. Mehr der wissenschaftlichen Erkenntnis wegen hatte er sich Aufklärungsfilme aus den siebziger Jahren angesehen und war regelrecht angewidert gewesen, wie sich die Leute beim Kopulieren anstellten. Dass so etwas angenehm sein sollte bezweifelte er schon. Seine Nachbarn schienen das anders zu sehen, denn die Frau kam jetzt immer mehr auf Touren und feuerte ihren Partner mit Sprüchen wie „Fick mich, du geiler Bock“ und „tiefer, ja, tiefer“ an. Einen Moment war es ruhig, dann hörte Bachmann: „Los, rammle mich jetzt von hinten du Stier, los, schneller, schneller, ah, ah!“
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