Gerhard kam mit zwei Decken, weil zum Abend hin ein zarter frischer Wind aufgekommen war.
„Vielleicht solltet ihr zwei euch langsam etwas anziehen, es wird kühl. Hier, damit wird es ein bisschen gemütlicher.“
Bei diesen Worten stellte er mit einigem Erschrecken fest, dass sich seine Wahrnehmung in Bezug auf jene Körper mit einem Mal vollkommen geändert hatte. Zwar schlenderte sein Blick in gewohnter Manier über die Proportionen der hingestreckten Begehrlichkeiten. Nur konnte er diesem Anblick nichts anderes mehr abgewinnen, als dem wohlwollenden Blick eines Vaters, der feststellt, wie prächtig sich seine beiden Töchter entwickelt hatten. Ohne den geringsten Anflug von Begierde reichte er ihnen die Decken und sagte fürsorglich:
„Ich bin sehr froh, dass Sie heute meine Gäste sind. Ich werde jetzt ein kleines Abendessen vorbereiten, und wenn Sie nichts dagegen haben, es nachher auf dem Deck servieren.“ Die beiden Frauen lächelten zufrieden, und obwohl ihm Susanne noch einmal kurz einen schamlosen Blick zuwarf, hatte auch sie realisiert, dass sich irgendetwas verändert hatte. Der Mond tummelte sich hinter einer dicken schwarzen Wolke, die ein wenig löchrig war und ihm dadurch das Aussehen eines Gesichtes verlieh, das mit großen angstvollen Augen irgendein Grauen erblickt. Rings um den See wachten palisadenhaft schwarze Baumkerle umwabert von Nebel.
Gerhard verschwand in der Kajüte und werkelte eine Weile am Kühlschrank herum. Die Bestände darin waren so üppig, dass er damit mühelos zehn Leute hätte bewirten können. Das kulinarische Angebot reichte über eine Vielzahl köstlicher Käsesorten, über luftgetrocknetem französischen Schinken, jede Scheibe so dünn wie eine Rasierklinge, bis hin zu tiefgefrorenen Garnelen und einem Kilo geräucherter Aalstücke, die er erst heute Vormittag in der Carwitzer Fischräucherei als Schnäppchen erworben hatte. Das Bild der nackten Mädchen lag noch immer feuchtschwer auf seiner Seele, Er komponierte einen Teller mit allerlei bunten Gaumenfreuden, wählte dazu liebevoll eine Flasche Rotwein aus und platzierte alles zusammen auf ein großes Tablett aus Eichenholz. Diese Dinge waren plötzlich so unberechenbar, dass er erschrocken, wie ertappt zurücktaumelte und sich fast ermahnen musste, nicht auch noch ein Gute-Nacht-Lied zu trällern. Seltsam zerstreut, lenkte er seine Gedanken hin zu dem eigentlichen Anlass dieser kleinen Reise. Jaja, beschwor er sich, das Schicksal hat mir zwei Herzchen hergeweht, die möglicherweise nur darauf warten, von mir beglückt zu werden. Aber dieses erbauliche Phantasiegebilde hielt dem Bild, das sich ihm aufzwang, nicht mehr stand. Etwas aus der verschütteten Tiefe seiner Vergangenheit drängte nach oben und ergriff so stark Besitz von seinen Gedanken, dass er einen heftigen Stich in der Brust spürte. Waren diese beiden neugierigen jungen Frauen nicht genau in dem Alter, in dem sich seine längst verlorene Tochter befand? Wurde jene, von der er nicht einmal zu erahnen vermochte, wie sie jetzt aussah, nicht jetzt vielleicht genau in diesem Augenblick so wie diese beiden Mädchen, irgendwo in dieser verdorbenen Welt von einem geilen alten Sack angestarrt? Er verspürte einen traurigen bitteren Schmerz. Gerhard wurde blass vor Beschämung und taumelte. Die Lust, die er noch vor wenigen Stunden gespürt hatte, löste sich nun vollends auf und wurde nur noch zu einem einzigen tonnenschweren Selbstvorwurf. Er sah jenes letzterinnerte Bild seiner Tochter, als es zum endgültigen Bruch zwischen ihm und ihrer Mutter gekommen war: ein kleines, zu Tode erschrockenes Mädchen, das ihn mit großen angstvollen Augen anstarrte, weil es nicht verstand. Sich selbst Trost verschaffend, setzte es eine kleine Plastikprinzessin neben eine ebenso kleine Plastikkuh, ihr Lieblingsspielzeug, und betrachtete beide lange in tiefster Traurigkeit, bis über ihre dunklen Wimpern ein schier endloser Strom Tränen floss, ohne dass sie dabei auch nur einen einzigen Laut von sich gab.
Damals war sein Kind vier Jahre alt. Und dieses Bild hatte sich so tief in Gerhards Gedächtnis eingegraben, dass er ausgerechnet jetzt vor Schmerz die Fassung verlor.
Gequält fasste er sich ans Herz, der Atem ging ihm schwer und dann sank er stöhnend auf die kleine hölzerne Bank, die neben einer kupferfarbenen Schiffsglocke stand. Irgendwo Halt suchend, griff er erst ins Leere und dann mit verkrampften Fingern nach der eitel glänzenden Glocke, welche laut seine Klage in die Stille schrie.
Hochgeschreckt vom Lärm eilte Tanja nach unten. In einer Ecke kauerte Gerhard, unglücklich wie ein zutiefst verletzter kleiner Junge. Er schluchzte und versuchte sich rasch abzuwenden, als er Tanja bemerkte. Eine lähmende Leere breitete sich in ihm aus.
Die weiß-roten Plastikfähnchen, die unweit des Bootes seine halbherzigen Ausgrabungen markierten, erschienen ihm mit einem Schlag sinnlos, zeugten sie doch nur von seinem erfolglosen Versuch, der Mittelmäßigkeit zu entgehen. Rot-weiß leuchteten plötzlich die eigenen Zweifel an den erstickten Ideen.
Gerhard war bemüht, sich zusammenzunehmen, sich auf das Elixier seines bisherigen Lebens zu besinnen – Rethra . Doch immer wieder spürte er den Namen hinter seinem Tränenschleier, der nun mit einem gewaltigen Ruck zu einem einzigen Vorwurf wurde.
Wie viele Jahre hatte er diesen Traum gelebt? dachte Gerhard verzweifelt. Was hatte er alles dafür geopfert? Wie viele faule Kompromisse war er eingegangen? Was hatte er nicht alles Schlimmes getan? Immer größere Zweifel plagten ihn. Und irgendwann hatte er nur noch einen Gedanken: Schluss damit!
„Vittoria“, wimmerte er leise, „mein armes kleines Mädchen. Was habe ich dir nur angetan!“
In Tanjas Kopf drohte eine Explosion. Sie wich entsetzt zurück und floh, so schnell sie konnte, zurück auf das Deck.
Indes halb frustriert, halb entschlossen machte sich Friedemann auf den Weg zurück ins Haus. Schleppenden Schrittes ging er durchs Vestibül in den hinteren Teil der Bibliothek, um schließlich vor einer mannshohen Vitrine stehen zu bleiben. Seine Augen huschten unruhig hin und her und Friedemann spürte, wie ihm die Hände vor lauter Aufregung feucht wurden. Zu seiner Verwunderung steckte der kleine silberne Schlüssel. Normalerweise trug den Gerhard stets bei sich. Offenbar hatte ihn das Erscheinen der beiden Frauen zu einiger Gedankenlosigkeit verleitet. Kein Wunder, dachte Friedemann, wo dieser geile Bock mit seinen Gedanken heute Nachmittag hing, kann man sich an allen Fingern ausrechnen. Und dann: Umso besser. Er schob erleichtert den lächerlichen Kupferdraht, mit dem er gehofft hatte, das Schloss unversehrt öffnen zu können, zurück in seine Hosentasche, zögerte noch einen Augenblick und drehte dann beherzt den Schlüssel um. Sofort strömte ihm der Geruch von altem, staubigem Papier entgegen. Noch einmal holte er tief Luft, weil sich nun zu seinen feuchten Händen auch noch ein Klopfen in der Brust gesellte. In der Vitrine lagerten Unmengen loser Blätter. In erster Linie waren es Federzeichnungen. Amateurhafte Versuche Wälle, Burgen und kleinere Heiligtümer zu rekonstruieren, von denen in natura höchstens noch Partikel der Fundamente übrig geblieben waren. Auch fanden sich mehrere Exemplare verschiedener Phantasieentwürfe Rethras, einer utopischer als der andere. In den untersten drei Fächern der Vitrine stapelten sich Atlanten und Kartographien der verschiedensten Zeitepochen. Couleur und Zeitepochen. Doch all diese Dinge beachtete Friedemann gar nicht. Er suchte nach etwas anderem. Es gab mehrere Übersetzungen des Thietmarschen Textes und natürlich jede Menge Kopien des Urtextes. Und weil Gerhard ihn heute auf einen Gedanken gebracht hatte, und er dazu so nahe wie möglich an die Urfassung herankommen musste, suchte Friedemann eben eine dieser wertvollen Kopien. Und wie er vermutete, befand sich eine davon im Besitz von Gerhard Voßkuhl. Nicht nur einmal hatte dieser sich mit vagen Andeutungen gebrüstet. Sei es aus Intuition oder närrischer Kombination, Friedemann wähnte dieses wichtige Schriftstück in der Vitrine. Soll er sich doch seine angeberische Klugheit aus seinem beschissenen Gehirn vögeln, dachte Friedemann, ich weiß etwas Besseres. Fiebernd durchblätterte er Stapel um Stapel, kramte in einer kleinen Kiste herum, in der Voßkuhl aber nur mehrere Handvoll perlmuttschimmernder Muscheln aufbewahrte und durchforstete zuletzt eine zerschlissene Ledermappe, mit einem defekten Reißverschluss. Fehlanzeige. Aufkommende Wut dämpfte seine Hoffnungen und schließlich befiel ihn nur noch blinde Verzweiflung. Um seiner aufkommenden Ohnmacht Herr zu werden, trat er einen energischen Schritt zurück und stieß dabei mit voller Wucht gegen die geöffnete Vitrinentür. Das altehrwürdige Scharnier gab ächzend nach, knirschte und mit einem gedämpften Knall flog die Glasscheibe auseinander. Friedemann erfasste Panik. Angstschweiß trat auf seine Stirn. Ein Strom heißen Blutes zirkulierte durch seine Adern und sammelte sich im Kopf. Und so als wäre ihm der Leibhaftige auf den Fersen, rannte er über die Scherben aus der Bibliothek. Erst auf der Veranda kam er wieder zu sich.
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