Herbert, der älteste von ihnen, hatte beim Atmen ein paar Mal pfeifende Geräusche von sich gegeben, die sie während keinem der vorherigen Läufe von ihm gehört hatten. Sie hatten taktvoll geschwiegen, hatten aber umso erschrockener auf ihre eigenen Atemgeräusche gelauscht. Herbert war Politiker, keiner mit Leibwächter, eher eine graue Eminenz, die gerade dabei war, ihrer aus dem Tritt gekommenen Partei trotz des eigenen pfeifenden Atems neues Leben einzuhauchen..
Bliebe als vierter noch Paul zu erwähnen, der Bankdirektor im Ruhestand, dessen Laufstil immer sehr korrekt gewesen war, und der nun ausgesprochen steif wirkte.
Bis auf Georg trugen sie alle Herzfrequenz-Messgeräte am Handgelenk, die sie immer wieder verstohlen überprüften. Es gab jedoch so viele Einflussfaktoren auf die Herzfrequenz, von der Höhenlage bis auf die Bekleidung, dass sie alle Mühe hatten, ihre Messwerte nützlich zu interpretieren. Nur Herbert war sicher, dass bei ihm etwas nicht stimmen konnte. Selbst während der heftigsten Parlamentsdebatten waren seine Werte nicht so extrem, wenn solche Vergleiche überhaupt erlaubt waren.
Vielleicht hätten sie abends auch nicht soviel trinken sollen. Doch es war, wie sie entschuldigend feststellten, wohl immer mehr der Wusch nach Geselligkeit als die sportliche Betätigung gewesen, der sie am Vier-Seen-Lauf vereint hatte.
Auch an diesem letzten Abend vor ihrem letzten Lauf assen und tranken sie zuviel und rauchten teure Havannas, die der Bankdirektor seinerzeit für eine Transaktion bekommen hatte, die im Gegensatz zu seinem korrekten Laufstil gestanden hatte. Inmitten der Rauchschwaden gedachten sie der beiden toten Freunde, auf die sie mehrmals das Glas erhoben. Es war auch eine letzte Gelegenheit, die Witwe zu beeindrucken, deren Kochkünste sie über die Massen lobten. Insgeheim hatte sich jeder von ihnen vorgenommen, vor der Abreise nachzufragen, ob er nicht als einzelner Feriengast einmal im Chalet Louise willkommen sei. Die Dame hatte bisher keinen von Ihnen sichtbar bevorzugt.
Zu fortgeschrittener Stunde, als ernsthafte Teilnehmer des Vier-Seen-Laufs längst im Bett lagen, wurde das SexTett melancholisch. Die Erinnerung an die vergangenen Läufe übermannte sie. Belanglose Episoden kamen ihnen in den Sinn und wurden zu spektakulären Erlebnissen aufgebauscht.
„Damals“, sagte Ludwig der Bestatter, der da gerade ins väterliche Unternehmen eingetreten war, „damals entsorgte man noch keine Abfälle in den Särgen, die für die Feuerbestattung bestimmt waren.“
Niemand wusste, wie er darauf kam. Vielleicht weil soviel Rauch im Zimmer war. Mit dem Skilanglauf hatte das jedenfalls gar nichts zu tun.
„Und das macht man heute?“ fragte der Politiker belustigt.
„Ich könnte euch noch ganz andere Sachen erzählen“, sagte Ludwig.
Doch sie entschieden, dass sie nicht von Bestattungen hören, sondern in die Loipen von damals zurückkehren wollten.
„Wisst ihr noch“, fragte Georg der Lebenskünstler, „wie dieser grosse Hund hinter mir her war? Beim allerersten Lauf kurz vor dem Ziel?“
Sie erinnerten sich.
„Er kam aus dem Wald“, sagte der Bankdirektor i.R. und zeigte mit seiner Havanna vage in Richtung St.Montis. „Wir dachten, es sei ein Wolf.“
Doch der letzte Wolf steht, wie wir wissen, ausgestopft in der „Gletscherspalte“ oberhalb von Campost.
„Ich weiss jetzt auch, warum er hinter mir her war“, sagte Georg. „Weil ich damals meine Schuhe mit Schweinefett imprägniert hatte.“
„Mit Schweinefett?!“ Sie waren erstaunt, dass der Freund nach fast einem halben Jahrhundert herausgefunden hatte, warum dieser Hund ihm bis ins Ziel gefolgt war. Georg war oft durch seltsame Ausrüstungsgegenstände aufgefallen.
„Nur einmal hat es während eines Laufes geschneit“, sagte der Politiker. „Als wir die Frauen dabei hatten.“
„Sie haben den Schnee angezogen“, meinte Ludwig. Erst dann fiel ihm ein, dass die Witwe ja auch von der Partie gewesen war, und er fügte hinzu: „Weil sie selbst so weich wie Schneeflocken sind.“
Immer neue Vorfälle kamen ihnen in den Sinn, als habe ihr ganzes Leben nur aus Kuriosa rund um Volksläufe bestanden. Sie verstrickten sich in diese drittklassigen Erinnerungen, die plötzlich alles überstrahlten, konnten sich nicht losreissen von ihnen, von dem roten Wein und dem Rauch der Havannas, in dem die geduldige Witwe immer begehrenswerter wurde.
Einzig Ludwig scherte ein paar Mal aus. Gerade er, der seinen Beruf als Bestattungsunternehmer immer sehr diskret behandelt hatte, sprach vom Tod, von Gräbern und Feuer, von Friedhöfen und Krematorien. Sie verstanden das nicht, wollten das nicht hören. Sie waren jung und stark wie damals, als all diese Dinge passiert waren, die sie über den Salontisch hinweg glorifizierten. Hätte die Witwe sie zu fortgeschrittener Stunde nicht daran erinnert, dass sie schon bald in die Loipe hinaus mussten, die fünfzig Kilometer ein letztes Mal als gestandene Männer bewältigen wollten, wären sie vielleicht in den tiefen Sesseln sitzen geblieben und hätten dem Heer der Volksläufer nicht einmal von der Terrasse aus ihre Referenz erwiesen.
Das wäre sicher besser gewesen. Aber sie rafften sich nun auf, streckten die Glieder, dass es vielfach krachte, drückten nacheinander die Witwe an sich, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Es fiel ihnen schwer, sich aus ihrer herzlichen Nähe zu entfernen.
Sie hatte ihnen versprochen, dem vorbeiziehenden Feld mit einem grellroten Tuch zuzuwinken. Doch keiner von ihnen sollte dieses Tuch je sehen.
Und was machte das Volk, das dem Lauf seinen Namen gab? Diese gesichtslose Masse, die sich in ein paar Stunden durch das Tal wälzen würde? Dieses bunt gekleidete, mit Stöcken und Brettern bewaffnete Heer?
Tausende der wackeren Kämpferinnen und Kämpfer, viele von ihnen mit Familien, Freunden oder Fans waren bereits in die ansonsten stille, verträumte Landschaft eingefallen. Wie gierige Heuschreckenschwärme frassen und tranken sie die Restaurants leer, bescherten dem Supermarkt in Madulan und zwei, drei anderen im Tal in wenigen Stunden Umsätze, die weit über einem Monatsdurchschnitt lagen, und legten kleinere Bars buchstäblich trocken. Nur wenige konnten es sich, wie Hilmar X. Bronner, leisten, mit Geliebten in Blauen Suiten zu nächtigen, nur wenige, wie Robert Kissinger, begnügten sich mit einem Massenlager. Die meisten hatte, oft Jahre im voraus, erschwingliche Hotelzimmer, Ferienwohnungen oder Privatunterkünfte gebucht. Die Vermieter stellten ihre letzten Schlafgelegenheiten zur Verfügung und verbrachten selbst die Nacht in der Badewanne oder zusammengekauert auf Stühlen hockend. Nach einer flauen Wintersaison war der Vier-Seen-Lauf die letzte Möglichkeit, die Finanzen ins Gleichgewicht zu bringen. Hotellerie, Gastronomie und ein paar Nebengewerbe, vertrauten darauf wie die Inder auf den Monsun. Was den Termin anbetraf waren die Inder im Nachteil, weil der Monsun nicht so zuverlässig kam wie der Vier-Seen-Lauf. Auch war ungewiss, was dieser an Geld und jener an Regen bringen würde. In Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs mussten gewisse Gewerbe trotz steigender Teilnehmerzahlen mit weniger Einnahmen rechnen. Allein die ständige Erhöhung des Startgelds liess den Leuten weniger Mittel für Nebenausgaben. In diesem Jahr jedoch schienen sie alle noch einmal auf den Putz hauen zu wollen, öffneten sich die Monsunwolken zu einem fruchtbaren Geldregen.
Es gibt so viele Gründe an einem Volkslauf teilzunehmen, wie es Teilnehmerinnen und Teilnehmer gibt. So gesehen gibt es gar keine Masse. Nur eine Ansammlung von Individuen, die von einem Punkt aus alle einem anderen Punkt zustreben. Die bestenfalls einen Wunsch gemeinsam haben: Dort anzukommen. So wie sie aber alle verschiedene Fingerabdrücke haben, sind auch ihre Gedanken, mit denen sie an den Start gehen, die sie während des Laufs beschäftigen, und die ihnen auf der Ziellinie durch den Kopf schiessen, verschieden. Nicht eine oder einer von ihnen denkt dasselbe. Sie lassen sich allenfalls in ein paar grosse Gruppen mit einem Grundgedanken zusammenfassen.
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