„Sieh da, unsere Vier-Seen-Königin“, sagte er, als er spät aus dem Krankenhaus herüber kam. Er nahm sie freundschaftlich in den Arm und küsste sie auf die Wangen „Bist du in Form?“
„ich glaube schon. Wenn ich nicht daran denke, dass mein Auto auf dem Herweg seinen Geist aufgegeben hat.“
„Das muss kein schlechtes Zeichen sein“, meinte er. „Wichtig ist, dass DU bis nach St.Montis durchhältst, und davon bin ich überzeugt.“ Er sprach und dachte immer positiv. Wie hätte er sonst auch Knochen zusammen flicken können, die zersplittert waren wie abgebrochene Äste. Unter Alpinskifahrern, Snowboardern und ähnlichen Bruchpiloten galt er als Meister seines Fachs. Auch er hatte feine, sensible Hände wie der Mann im Zug.
„Wird sich das Wetter halten?“ fragte Betty. „dann könnte ich morgen mit den Kindern an die Zenser Steigung fahren und den Lauf anschauen. Vielleicht sehen wir Katinka.“
Ralf wiegte zweifelnd den Kopf. „So gern ich ja sagen würde, ich glaube, das Wetter kippt. Das Barometer in meiner Praxis fällt schon seit gestern Morgen. Hast du eine beschlagfreie Brille, Katinka?“
„Ich denke schon.“
„Werde sie mir anschauen“, sagte er. „Skatest du oder läufst du klassisch?“
„Ich habe Skating-Ausrüstung, kann aber beides.“
„Pass vor allem auf die Stockfuchtler auf“, warnte er. „Es gibt Leute, die ihre Stöcke als Propeller benutzen.“ Im Krankenhaus hatten sie da ihre Erfahrungen.
Wirklich schwere Unfälle waren bei so einem Volkslauf allerdings selten. Verrenkungen, Verstauchungen, mal ein Knöchel oder Handbruch, Krämpfe aller Art und natürlich die Herz- und Kreislaufkombinationen. „Die Leute glauben heute, einfach alles zu können“, sagte Ralf. „Es scheint gar keine Barrieren mehr zu geben. Man schafft das schon. Mit Turnschuhen aufs Matterhorn, mit der Luftmatratze über den Atlantik. Die Gefahr liegt in der unsagbaren Überheblichkeit. Bescheiden sein, auch seinem Körper gegenüber ist out. Leistung auf allen Ebenen, unter allen Umständen, in jedem Alter. Ich sollte das ja gar nicht erwähnen. Schliesslich lebe ich davon.“
Sie sassen immer noch um den Küchentisch und tranken eine Flasche Rotwein. „Ein paar Schluck darfst du auch haben“, hatte Ralf gesagt. „Das beruhigt.“
„Wenn ich es morgen schaffe“, versprach Katinka, „lade ich euch alle nach St.Montis zum Essen ein. Ihr müsst nur meine Kleider mitbringen.“
„Wer weiss, wie lange ich im Krankenhaus zu tun habe“, meinte Ralf. „Aber irgendwie werden wir deinen Erfolg feiern. Möge es gelingen!“
Sie erhoben ihre Gläser und stiessen an. Katinka wusste, dass morgen ein entscheidender Tag sein würde.
Ursprünglich hatte er die romanischen Dome von Worms und Speyer, die nicht soweit auseinander lagen, auf dem Hinweg besichtigen wollen. Doch die zwei zusätzlichen Tage, die er dafür benötigte, hatten sich vor dem Lauf nicht einplanen lassen. Sie hatten mit dem neuen Projekt soviel zu tun gehabt, dass er froh gewesen war, wenigstens am Freitagmorgen wegzukommen. Die Fahrt aus dem Thüringer Wald in jenes ferne Hochtal, in dem die Ortschaften fremd klingende Namen wie Madulan, Campost, Fedors und Zens hatten, glich einer kleineren Odyssee. Zumal er die Bahn nehmen musste, weil sein Partner das Auto brauchte. Fünf oder sechs Mal hatte er umsteigen müssen, und die Reise mit dem späteren Umweg über Worms und Speyer war nicht gerade billig. Egal. Es war immer sein Wunsch gewesen, an den berühmtesten der grossen Volksskiläufe teilzunehmen. So wie Opern-Fans in die Skala nach Mailand oder in die Met nach New York fuhren. Bis vor wenigen Jahren hatten die politischen Verhältnisse, das Ausreiseverbot, solche Exkursionen nicht zugelassen. Jetzt musste er die verlorene Zeit wettmachen. Vor vier Jahren hatte er den Dolomiten-Lauf mitgemacht, vor zwei Jahren den anspruchsvollen Wasalauf in Schweden. Dieses Jahr nun den Vier-Seen-Lauf. Dann standen immer noch ein paar Grosse bevor: Der Engadiner Skimarathon, der Finlandia Hihto, die Transjurasiene, der König Ludwig Lauf, der American-Birkebeiner und andere.
Robert Kissinger, der Name hatte ihm während des kalten Krieges einmal Ärger gemacht, war schon als Junge mit seinem Vater, einem Forstbeamten, stundenlang auf Skiern durch die heimischen Wälder gezogen. Talentsucher waren auf ihn aufmerksam geworden und er war gefördert worden. Für kurze Zeit war er Mitglied des DDR Juniorenkaders im Skilanglauf gewesen. Doch er bewies keine Regime-Konformität, galt als Querdenker und Einzelgänger und wurde als Leistungssportler fallen gelassen. Es wurde ihm indes nicht verboten, tausende von Kilometern allein abzuspulen. Er hatte Architektur studiert und sich, auch so ein provozierendes Unding, auf den Erhalt und die Sanierung von sakralen und geschichtlich bedeutenden Bauten spezialisiert. Nach der Wende war er gefragt gewesen.
Er war also an diesem Morgen in aller Frühe aufgebrochen, war in langsamen und schnelleren Zügen nach Süden gereist und hatte feststellen müssen, dass die Bahn auf keinen Fall das Transportmittel der Zukunft werden würde. Bei Einbruch der Dunkelheit war er ein letztes Mal umgestiegen, in eine Privatbahn, die sich überfüllt in die Berge hinauf kämpfte. An einer der nächsten Stationen mit den seltsamen Namen war eine junge Frau zugestiegen. Sie hatte eine schwere Sporttasche in den Mittelgang gewuchtet und selbst dort stehen müssen. Sie schien tief in Gedanken versunken zu sein. Nach einiger Zeit bot er ihr seinen Platz an. Sie lehnte dankend ab. Er war nicht sicher, ob sie ihn überhaupt verstanden hatte. Dann kam eine Station, an der es Platz gab. Die Frau stemmte, noch bevor er helfen konnte, ihre Tasche auf die Gepäckablage und liess sich schräg gegenüber von ihm in die Ecke fallen. Sie schloss sofort die Augen.
Robert Kissinger betrachtete sie aufmerksam. Seitdem Eva ihn kurz nach der Wende verlassen hatte, um endlich die grosse Welt kennenzulernen, war er auf Frauen nicht gut zu sprechen. Jedenfalls hatte er sich mit keiner mehr so andächtig beschäftigt wie mit seinem Gegenüber. Wenigstens zum Schluss der Reise ein schöner Anblick. In den anderen Zügen war in der Hinsicht nicht viel los gewesen. Hübsche Frauen schien es in der Bahn noch seltener zu geben als guten Service. Einmal öffnete sie erschreckt die Augen, als habe sie schlecht geträumt, schaute ihn intensiv an, lächelte ihm zu und liess die Lider mit den langen Wimpern wieder über das uferlose Blau gleiten.
Er fragte sich, ob sie auch am Lauf teilnehmen werde. Sie wirkte sportlich und doch sehr fraulich, und er konnte sich vorstellen, dass sie in der Loipe eine gute Figur machte. Eine von den Frauen, die, wenn sie am Ziel Brille und Mütze abnahm, von den Kameras gern eingefangen wurde. Noch einmal öffnete sie verwirrt die Augen, schaute fast verlegen in die Runde, musterte ihn, lächelte ihm wieder zu, hüllte sich in ihre flauschige Jacke und schlief weiter.
Beim Aussteigen wechselten sie ein paar Worte. Sie sprach Hochdeutsch, ohne ihren Dialekt ganz verleugnen zu können. Als er sich auf dem Bahnsteig noch einmal nach ihr umdrehte, winkte sie ihm zu. Schade, dass diese Begegnung nicht ein paar Stunden früher stattgefunden hatte. Sein schönes Gegenüber nahm sicher am Lauf teil, doch er würde sie dort kaum wiedersehen.
Er fragte nach Leos Massenlager. Man sagte ihm, er müsse ein gutes Stück laufen. In Richtung Startgelände, über die Parkplätze und ein paar Meter den Berg hinauf. Verpassen könne er es nicht. Leo habe auch ein Restaurant, das beleuchtet sei wie ein amerikanischer Hamburger-Schuppen.
Robert Kissinger kannte die Atmosphäre bei diesen Volksläufen. Schon am Vorabend kam man sich in den Orten entlang der Rennstrecke wie in grossen Heerlagern vor. Nur dass Freund und Feind bis zum Beginn der Schlacht einträchtig nebeneinander sassen, tranken, sangen, gelegentlich sogar tanzten und sich, was den Einsatz ihrer Waffen, sprich Skier betraf, mehr oder weniger ehrliche Ratschläge gaben.
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