Sie war die einzige, die aus dem X. in seinem Namen etwas machte. Alle anderen benutzten es nur für Schmähungen und alberne Sprüche. Er hatte ernsthaft erwogen, sich nur noch Hilmar zu nennen, was distinguiert genug klang. Doch Olivia hatte dieses X, dieses Xaver, sie sagte Ksaviè, zum Kosenamen erkoren. Also hatte er es nicht gestrichen, und die Strasse skandierte weiter ‚bei Hilmar X. geht nix. Doch die Strasse hatte ihn noch nie bei einer Umarmung mit Olivia Pellier gesehen. Da ging durchaus etwas. Sie schafften es nicht einmal bis ins Schlafzimmer. Die Kleider hinter sich verstreuend endeten sie auf der riesigen Couch vor dem Panoramafenster, durch das man, ähnlich wie vom Flugzeug aus, weit das Tal entlangschauen konnte.
Als Ksaviè sich nach geraumer Zeit wieder aufrichten konnte, legte sich die Abenddämmerung über die Rennstrecke.
„Das kostet dich genau hundert Plätze“, schnurrte Olivia befriedigt.
„Mindestens“, stöhnte er. „Wir hätten uns erst morgen Abend treffen sollen“.
„NACH dem Lauf? Da bist du doch völlig kaputt“, lachte sie und versuchte, ihn mit ihren langen Beinen wieder zu sich herunter zu ziehen.
„Du untergräbst ganz perfide meine Kondition“, protestierte er. Es war schwer ihr zu widerstehen.
Sie liessen das Abendessen aufs Zimmer kommen. Er hatte sich während der letzten Wochen bemüht, einen Speiseplan für Ausdauersportler einzuhalten. Die empfohlene Relation von Kohlehydraten, Proteinen und Fett war ein Geschäftsessen nicht immer erreichbar gewesen. Umso lieber liess er sich jetzt eine ausgezeichnete Pasta alla Casa und ein grosses Steak servieren. Auf Alkohol verzichtete er. Olivia trank eine halbe Flasche Weisswein zu ihrem Filet de Daurade und wurde danach wieder gefährlich munter. Er überredete sie zu einem abendlichen Spaziergang durch den Ort und gab Kuster telefonisch Bescheid. Das tat er mehr, um Kuster zu beruhigen als aus Sicherheitsgründen. Sie verliessen das Hotel durch einen Hinterausgang, und der kleine Mann folgte ihnen in einer Entfernung, in der er kaum nützlich sein konnte.
In ihrem kurzen Silberfuchsmantel – mein Gott, die Tierschützer! – und den schenkelhohen, weichen Stiefeln wirkte sie leicht provozierend. Ein Klatschkolumnist hatte sie einmal als Edelnutte bezeichnet, aber er und sein Blatt hatten teuer dafür bezahlen müssen. Olivia Pellier, Anfang dreissig, war die Tochter eines bekannten französischen Bankiers, der es ihr ermöglichte, sich die Zeit zu vertreiben. Sie war, nicht unbedingt dem Jet-Set folgend, mal hier, mal dort, war zweimal verheiratet gewesen, liess sich aber am liebsten Demoiselle nennen. In Hilmar Ksaviè Bronner hatte sie sich verliebt. Das hielt jetzt schon seit einigen Jahren an. Wahrscheinlich, weil sie sich nur selten sahen. Was Olivia zwischen ihren Begegnungen trieb, wusste Bronner nicht genau. Er hatte auch nie Zeit, darüber nachzudenken. Wenn er sie um ein Treffen bat, war sie meistens gut gelaunt zur Stelle, ohne irgendwelche Ansprüche zu stellen. Das war fast zu schön, um wahr zu sein.
Mitten auf der Strasse legte er ihr den Arm um die Taille und versprach, ihr nach seiner Rückkehr vom Volkslauf das aparte Winterensemble von Armani zu kaufen, das sie gerade in der Auslage einer Nobelboutique gesehen hatten.
Sie schlenderten bis auf den kleinsten der vier zugefrorenen, verschneiten Seen hinunter, wo unter Flutlicht noch an den Zieleinrichtungen gearbeitet wurde. Hier würde er morgen ankommen, mit letzter Kraft. Jeder Beinabstoss, jeder Stockschub eine Qual, die Herzfrequenz am Rand des Messbaren. Doch er würde es wieder geschafft und wieder ein paar hundert Plätze gut gemacht haben. Er genoss das grossartige Gefühl nach dem Zieleinlauf im voraus, was, wie die Ereignisse zeigen werden, sehr vernünftig war.
„Soll ich dich morgen Mittag hier erwarten?“ fragte Olivia.
„Nicht in diesem Gewühl“, sagte er. „Bleib im Hotel, Liebes. Wir werden morgen Abend nicht im Zimmer essen, sondern zum Diner Dance hinuntergehen und meinen Erfolg, toi, toi, toi, feiern“.
„Tanzen?“ strahlte Olivia. „Wir haben schon lange nicht mehr miteinander getanzt, Ksaviè.“
„Das stimmt“, sagte er.
Überall würde es morgen Abend lustig zu- und hergehen. Sie hatten am Rand des Ortes sogar zwei beheizbare Zirkuszelte aufgestellt, in denen der Volkslauf-Ball stattfand. Ein Zugeständnis des Verkehrsvereins an all jene, für die St.Montis eine Spur zu teuer war.
„Wir werden tanzen“, jubelte Olivia und drehte sich ein paar Mal um sich selbst.
Ausgerechnet in dem Waldstück hatte das Auto angefangen zu bocken wie ein störrischer Esel. Schliesslich war es mit einem Ruck stehen geblieben. Sie wusste, dass der Wagen reif für so etwas gewesen war. Aber hätte er nicht wenigstens bis nach Madulan durchhalten können. Der Wald war der schlechteste Platz für sein Ende gewesen. Sie hatte versucht, andere Autos zu stoppen, doch es hatte niemand angehalten. Wahrscheinlich hatten die Leute Angst vor einer Falle gehabt. Sie hatte in der unwirtlichen Gegend selbst Angst gehabt. Endlich war ein Lieferwagen mutig genug gewesen zu bremsen. Er hatte ein Natel im Wagen und hatte den Pannendienst des Automobilclubs angerufen. Er hatte ihr auch angeboten sie mitzunehmen. Aber sie hatte ihr Auto mit all dem Gepäck und den Skiern nicht einfach im Wald stehen lassen können.
Fast eine Stunde hatte es gedauert, bis der Pannendienst erschienen war. Eine Stunde, in der sie sich ganz und gar nicht wohl fühlte. Wenigstens hatte sie Zeit gehabt, das Aufmunterungsgeschenk ihrer Schülerinnen und Schüler zu betrachten: Eine zeitungsgrosse Zeichnung, auf der unzählige bunte Strichmännchen mit Skiern an den Spinnenbeinen wirr durcheinander purzelten. Vorneweg jedoch lief SIE, gross, aufrecht und sicher. „Vorwärts, Frau Blank“ , hatten die Kinder darüber geschrieben. Und Franco, der kleine Italiener, der sie besonders mochte, hatte ‚forza Katinka’ daneben gekritzelt. Die Kinder erwarteten, dass sie es schaffte und würden ihr den ganzen nächsten Tag die Daumen drücken.
Der Start des Unternehmens mit dem Zusammenbruch ihres alten Autos war indes nicht sehr vielversprechend gewesen. Endlich war der Pannendienst gekommen und hatte sie aus ihrer misslichen Lage befreit. Ihr Auto müsse vom Abschleppdienst geholt werden, hatte der Mann gesagt, das führe selbst keinen Meter mehr. Als er gehört hatte, wohin sie wollte, hatte er sie mit ihrem Gepäck an den nächsten Bahnhof gebracht, obwohl das nicht zu seinen Aufgaben gehörte. Sie war der Typ Frau, für den die Männer gern einen Umweg machen. Wieder hatte sie eine Stunde warten müssen, diesmal auf den nächsten Zug. Sie hatte Betty in Madulan angerufen und ihr gesagt, wann sie eintreffen werde. „Ich glaube, das Unternehmen ist eine Schnapsidee“, hatte sie noch gemeint. Aber Betty war da ganz anderer Ansicht. „Wir holen dich vom Bahnhof ab“, hatte sie versprochen. „Hier ist schon ziemlich viel los.“
Die Züge in die Berge hinauf waren an diesem Freitagabend überfüllt. Zu den üblichen Wochenendausflüglern gesellten sich unzählige Teilnehmer des Vier-See-Laufs, die schon am Vorabend anreisten. Sie bekam nur einen Stehplatz im Mittelgang, zwischen Sporttaschen, Skiern und Rucksäcken. Es herrschte eine feuchte Wärme, wie in einem Gewächshaus, und es roch nach Schweiss, Skiwachs und stockiger Winterkleidung.
Katinka Blank wurde müde. Sie war seit sechs auf den Beinen, hatte bis mittags unterrichtet, für ihre verunfallte Nachbarin eingekauft, eine Wäsche gemacht, die Wohnung in Ordnung gebracht, ihre Ausrüstung zusammen gesucht und stadtauswärts nur im Schritttempo fahren können. Durch die Panne hatte sie weitere zwei Stunden verloren. Es war inzwischen dunkel geworden. Der Zug quälte sich in weiten Kehren und durch ein System von Tunneln bergan. Ein Mann, den sie nicht einmal richtig wahrnahm, bot ihr seinen Platz an. Doch sie lehnte dankend ab.
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