Er klappte es auf, drückte den Startknopf, ließ die Maschine hochfahren. Etwa eine Minute später stand die Verbindung zu seinem elektronischen Posteingang.
Tatsächlich, zwei Nachrichten waren seit der gestrigen Abmeldung seines Computers eingegangen. Absender war der Vatikan.
Als Betreff stand zu lesen ’Test’, mit Datum des Vortags, Zeit 21:13 Uhr, sowie ’Scan Dokument’, mit Datum von heute, Zeit 03:29 Uhr. Neugierig geworden, öffnete er die Datei ’Scan Dokument’, welche keinen weiteren Text enthielt.
Zügig lud er den Anhang hoch, was einen Moment dauerte. Auf seinem Bildschirm erschien ein leicht vergilbtes, aber dennoch guterhaltenes weißes Blatt Papier in der Größe von etwa DIN-A4.
Der Rand war lediglich an mehreren Stellen etwas eingerissen. Es war voll beschrieben mit Zeichen, die ihn auf den ersten Blick an sumerische Keilschrift, an semitische Sprachen, hierbei speziell die Aramäische, wie auch an andere altertümlichen Schriften erinnerten.
Obendrein erkannte er bei genauerem Hinsehen noch Hieroglyphen. Daneben gab es weitere Schriftzeichen, die flüchtig betrachtet überhaupt nicht passten, nämlich Zahlen kombiniert mit Buchstaben in heutiger Schreibweise, scheinbar wahllos an einigen Stellen eingefügt.
Seine Überraschung kannte jedoch keine Grenzen mehr, als er am Ende des Dokuments seinen Namen samt geheimer Anschrift sowie seine nicht bekanntgegebene Telefonnummer nebst Email-Adresse fand, alles in feinster Druckschrift. Nur die CIA wusste von diesen Daten.
Gleichsam standen sie hier auf einem Schriftstück, welches, den antiken Buchstaben nach zu urteilen, hunderte, möglicherweise tausende von Jahren alt sein konnte. Die zweite Überraschung kam, als er die Schriftzeichen näher betrachtete.
Diese hatten in ihrer Anordnung eine verblüffende Ähnlichkeit mit seiner aktuellen, kryptologischen Arbeit. Wie kam der Vatikan an ein Schreiben, das Ergebnis seiner Forschung zu sein oder Teile davon zu enthalten schien?
Es wurde immer unglaublicher. Er musste seine Kollegin, Susan Stewart, von der U.S. Army anrufen.
Sie wurde ihm primär, aufgrund ihrer herausragenden Reputation, für seine komplizierte Aufgabe als wissenschaftliche Assistenz zugeteilt. Darüber hinaus war sie seine Ansprechperson, wenn es außerhalb der Arbeit zu Problemen kam.
Nach einer steilen Karriere bekleidete sie mittlerweile den Rang eines Majors, obwohl sie erst 33 Jahren alt war. Zudem wirkte sie als Wissenschaftlerin bereits an vielen militärischen Geheimprojekten mit, bevor sie sich kennenlernten.
Oft, wenn sie zusammen arbeiteten, musste er an sein Studium, seine vielen Reisen sowie die wissenschaftlichen Aufgaben, für die er Verantwortung trug, denken, was ihm nicht nur einen exzellenten, wissenschaftlichen Ruf, sondern auch, was die Schattenseite seiner Berufung war, ein Leben als Single einbrachte.
Weder fand er die Zeit für eine dauerhafte, intime Beziehung, noch waren die historischen Artefakte, an denen er arbeitete, dazu angetan, eine mögliche Freundin zu beeindrucken. Bei Sue, so mochte Susan Stewart von ihren Freunden genannt werden, war das anders!
Sie gefiel ihm gut, mit ihren blonden, schulterlangen, Haaren, den weiblichen Formen, dem angenehmen Parfum, welches sie dezent verwendete, besonders aber wegen ihrer konsequent wissenschaftlichen Art zu arbeiten. Dass sie auch altersgemäß zu ihm passte, war eine weitere positive Eigenschaft.
Eines Abends, nachdem sie bei der Lösung eines Übersetzungsproblems einfach nicht weiterzukommen schienen, lud sie ihn zur Ablenkung zu einem Probetraining mit ihren Army-Kollegen ein. Diesbezüglich wusste er von ihr nur, dass sie als Nahkampfexpertin das wöchentliche Training seit über einem Jahr leitete.
Er erlebte, wie sie reihenweise muskelgestählte Kämpfer auf die Matte legte. Von Susan war er nicht nur beeindruckt, sondern sie hatte es ihm tatsächlich angetan.
Er hinterließ ihr eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter, teilte den Inhalt des ungewöhnlichen Telefonats mit und wies sie an, die Email, welche er ihr sofort weiterleiten wollte, so schnell wie möglich zu lesen.
Gleich darauf fing er an zu packen.
***
Rom, 27. Dezember, 06:30 Uhr
Über das dunkle Pulver in der Tasse goss er siedend heißes Wasser. Am liebsten mochte er seinen Kaffee stark, schwarz wie die Nacht, allerdings mit mindestens drei Löffeln Zucker.
’So viel Genuss musste sein’, war sein Motto! Süßstoff kam für ihn nicht in Frage, da hielt er sich an seine Prinzipien.
Nun hatte er genügend Zeit, konnte den frühen Morgen gemütlich angehen lassen und in der Tageszeitung blättern. Erst in einer halben Stunde würde er sich auf den Weg in sein Büro machen.
’Wenigstens sind die Straßen frei, die meisten Leute bleiben heute zuhause’, dachte er.
Das mit dem erwünschten Urlaub zwischen den Jahren hatte leider nicht geklappt. Den Vorzug bekamen jene Beamten mit schulpflichtigen Kindern – eigentlich wie jedes Jahr.
Noch während er damit beschäftigt war, mit viel Geduld den Zucker in sein Heißgetränk einzurühren, meldete sich sein mobiles Diensttelefon.
„Nein“, murmelte er vor sich hin, „nicht schon wieder, ich habe doch noch nicht einmal gefrühstückt. Scheiße!“
Sein beruflicher Ehrgeiz als Abteilungsleiter machte es ihm unmöglich, den Anruf zu ignorieren. Der Hauptkommissar der italienischen Staatspolizei, in dieser Funktion leitender Ermittlungsbeamter des Morddezernats, drückte die Taste auf seinem Handy.
„Ciao, Cattano.“
„Tozzi hier, ciao Enrico. Ich muss dich leider früh stören.
Wir haben einen Doppelmord, den wir untersuchen sollen. Sieht ganz nach einem Ritual oder einem Wahnsinnigen aus - vielleicht auch beides zugleich, das weiß man bei diesen Verrückten ja nie.
Die Order kommt von ganz oben, vom Innenministerium. Die wollen, dass wir eilig in die ’Via Angelo Emo’ fahren.“
„Ist das nicht ganz in der Nähe des Vatikans?“
„Ja, stimmt, die Carabinieri, welche die Wohnung aufgrund eines anonymen Hinweises zuerst betraten, sollen ein Schlachtfeld vorgefunden haben, angeblich eine ganz schöne Schweinerei. Ich kann in fünf Minuten bei dir sein.“
„Soll ich fahren, Paolo?“
„Nein bloß nicht!“, lachte Tozzi.
Sie stritten sich immer darum, wer fahren durfte.
„Wir nehmen mein Auto! Oder willst du mit deinem Fahrstil wieder alte Omas erschrecken?“
„Alles klar“, lachte auch der Kommissar, „meinen Kaffee wärme ich dann heute Nachmittag in der Mikrowelle. Wir wollten ja unbedingt Bullen werden!
Bis gleich, Paolo. Cattano, Ende!“
„Arrivederci, bis gleich Enrico.“
Um 3000 vor Christus
Auf einer Anhöhe stellten sie auf einem kargen und steinigen Feld, in Sichtweite der übriggebliebenen Trümmer einer durch einen Tsunami vor kurzem verwüsteten Stadt, einen riesigen Tisch aus Pinienholz auf. Niemand wohnte mehr in den Ruinen, welche etwa 90 Meter tiefer lagen.
Dabei meinte man, die Wesen, die diese Metropole bevölkert hatten, immer noch zu spüren, ihre Stimmen zu hören. Ein ausschweifendes, dekadentes, ein der Sünde anheimgefallenes, menschenverachtendes Leben - es war verschwunden.
Überbleibsel waren zur Mahnung gereichende klobige Brocken, welche dem Gottesgericht vorübergehend standhielten, jedoch mit der Zeit durch Verwitterung dem Vergessen anheimfallen würden. Die ganze Landschaft war öde und ausgetrocknet, bis auf die Stelle, an der die Überreste des urbanen Molochs zu sehen waren.
Mit etwas Phantasie konnte man sich vorstellen, dass jene Residenz einst pyramidenförmig nach oben gebaut und auf diese Weise für viele Menschen eine dauerhafte Bleibe geworden war. Selbst die hohe, aus großen Quadersteinen errichtete Stadtmauer war an einigen Stellen noch partiell zu erkennen.
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