„Ja, hallo“, meldete er sich verschlafen.
Eine weibliche, sehr sympathische Stimme antwortete ihm:
„Spreche ich mit Professor Peter Meyers?“
„Ja“, antwortete er stakkatoartig.
„Professor, ich rufe an im Auftrag seiner Eminenz, Kardinal Richemont aus dem Vatikan. Mein Name ist Tamara Rosalia.
Wir brauchen ihre Hilfe!“
Er zögerte mit der Antwort eine Weile.
„Ja, und ich bin Santa Clause!“, erwiderte Peter gereizt.
„Ich habe, während ich auf meinen Rentierschlitten durch die Nacht brause, auch nichts Besseres zu tun - aber im Ernst, für Späße bin ich jetzt nicht aufgelegt. Sie wissen schon, dass wir nicht nur Weihnachten, sondern hier in Los Angeles gerade 03:37 Uhr morgens haben.
Für gewöhnlich schlafe ich um diese Uhrzeit.“
Er schaute genervt auf die Leuchtziffern seines Radioweckers.
„Ich bedaure sehr, sie so früh, ich meine, mitten in der Nacht, geweckt zu haben“, ließ die Anruferin nicht locker.
„Uns beschäftigt ein Problem, das sich leider Gottes nicht aufschieben lässt. Nur Sie können uns noch helfen!
Nach unseren Recherchen sind sie eine Koryphäe in Sachen Kryptologie und alter Sprachen. Sie konnten bisher jeden altertümlichen Text übersetzen.
Es ist nicht so, dass wir im Vatikan nicht genügend Experten hätten, jedoch sind wir fürwahr mit unserem Latein am Ende.
Und das will in der katholischen Kirche etwas heißen“, versuchte sie mit Wortspielen das Telefonat etwas aufzulockern.
„Ein spezielles Schriftstück macht uns Sorgen.“
„Sie machen mir Freude“, ergriff er barsch die Initiative.
„Sie rufen hier zu unchristlicher Zeit an, denken womöglich, weil mich der Vatikan verlangt, komme ich sofort.
Falls sie ihre Hausaufgaben effektiv gemacht haben, wissen sie, dass ich nicht mal Katholik bin, auch in den Gottesdienst gehe ich schon lange nicht mehr. Darüber hinaus belästigen Sie mich zu dieser Nachtzeit.
Was soll ich nur davon halten?
Allerdings finde ich ihre Stimme sehr sympathisch“, reagierte Peter schlagartig charmant.
„Und da ich nun endgültig wach bin, lassen sie mal hören. Was ist denn so wichtig an diesem Text?“
„Das eben hoffen wir, mit ihrer Hilfe herauszufinden“, redete Tamara Rosalia geheimnisvoll weiter.
„Dabei sind wir nicht ganz zufällig auf sie gestoßen. Mit anderen Worten:
Wir fanden in dem besagten, altertümlichen Dokument ihren Namen in moderner Schrift auf dem unteren Teil des Blattes.“
Der Professor stockte:
„Habe ich sie richtig verstanden? Es handelt sich doch um einen archaischen Text?
Wieso steht dann mein Name darauf?“
Peters Überraschung stieg urplötzlich genauso wie sein Interesse, obschon seine Gedanken regelrechte Purzelbäume schlugen. Dazu kam, dass der Albtraum, aus dem er durch das Handy nicht nur gerissen, sondern vielmehr gerettet wurde, noch eindrücklich vor seinem geistigen Auge stand.
Er bemerkte nebenbei, dass er verschwitzt war, dass ihn fröstelte, weil die Feuchtigkeit in seiner Schlafbekleidung, außerhalb seiner Decke, unangenehm abkühlte.
„Das ist uns auch ein Rätsel, Mister Meyers“, fuhr die weibliche Stimme fort, „doch die Umstände, wie wir zu diesem Dokument kamen, sind noch mysteriöser.
Ich schlage Ihnen vor, dass Sie uns schnellstmöglich als unser Gast in Rom besuchen. Packen Sie indessen gleich für mehrere Tage und verlieren Sie keine Zeit.
Sollten sie etwas vergessen, werden wir ihnen das Benötigte in Rom besorgen. Ich habe mir erlaubt, einen Privatjet des Vatikans zum Flughafen in Los Angeles zu beordern.
Sie werden mit dieser Maschine bequem und direkt in die ewige Stadt gebracht werden. Der Abflug ist um 08:30 Uhr vom Flughafen in Los Angeles geplant.
Alles ist bereits organisiert. Weitere Informationen erhalten Sie von Monsignore Antonio, einem unserer wissenschaftlichen Theologen, der einen streng geheimen Bereich des Vatikans leitet, welcher direkt dem Heiligen Vater unterstellt ist.
Es war dessen persönlicher Wunsch, sie im Jet zu begleiten. Ich denke, sie erwartet ein spannendes Gespräch mit einem ausgesprochenen Spezialisten für die Dunkle Seite der Welt.
Vertrauen Sie ihm! Ach, beinahe hätte ich es vergessen.
Wir haben für sie ein Taxi geordert, welches sie pünktlich zum Flughafen bringen wird. Der Fahrer wird um 07:30 Uhr vor ihrer Haustür stehen.
Lassen sie ihn nicht warten!“
„Moment, wie kommen sie dazu, zu glauben, dass ich kurzweg meine Koffer packe, um zu ihnen zu fliegen?
Ach so“, schoss ein Geistesblitz durch Peter, „jetzt verstehe ich!
Ihr Studenten macht einen Scherz, oder?“
Peter erinnerte sich an seine angehenden Akademiker, die sich mit Vorliebe derbe Späße ausdachten, insbesondere in angetrunkener Partylaune. Dagegen sprach, dass er zurzeit von seinen Lehrpflichten vorübergehend beurlaubt war, weshalb er bereits seit über zwei Monaten keinen Kontakt mehr zu den Hochschülern hatte.
Die CIA und das Pentagon brauchten ihn für einen streng geheimen, wissenschaftlichen Auftrag in Kryptologie. Er sollte mit seiner Kenntnis alter Sprachen sowie seiner Erfahrung mit antiken Schriften helfen, einen Geheimcode zu entwickeln, der die Informationsübermittlung beim Militär revolutionieren würde.
Es zeigten sich bereits erste Fortschritte. Zur Sicherheit war er zwischenzeitlich zusätzlich in einer anonymen Wohnung untergebracht worden – eine übliche Verfahrensweise des Pentagons –, weshalb in ihm eine Alarmglocke anschlug.
War dies eine Falle? Niemand wusste von seiner Arbeit oder wo er sich aufhielt.
Die CIA hatte ihm zu Beginn eindringlich geraten, aufzupassen, die Augen offenzuhalten. Andererseits war die Zeit des Kalten Krieges mit dem Fall der Berliner Mauer oder des Eisernen Vorhangs sowie der Neuordnung des sowjetischen Reiches seit den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts vorbei.
Spione oder Doppelagenten gab es nur noch in alten Kriminalfilmen, wobei ihm der Gedanke daran ein flüchtiges Schmunzeln ins Gesicht zauberte.
„Ich bin keiner ihrer Studenten, Professor“, rechtfertigte sich Tamara Rosalia.
„Mir ist dennoch klar, dass sie keinen Anlass haben, mir zu trauen, schließlich kennen sie mich nicht. Deshalb habe ich ihnen als Beweis eine Mail geschickt mit einer Abschrift des Textes, damit sie sich selbst ein Bild von der Dringlichkeit machen können.
Ich versichere ihnen, dies ist kein Scherz! Sehen sie sich alles genau an, aber vergessen sie nicht das Taxi um 07:30 Uhr.
Wir freuen uns auf sie und hoffen zugleich auf ihre Mitwirkung. Immerhin könnte das Schicksal der Menschheit von ihnen abhängen.
Wir sehen uns in Rom - bis bald.“
Die Frau mit der angenehmen Stimme, Tamara Rosalia, legte auf. Irritiert klappte Peter sein Handy zu.
Er war sich nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte. Sprach sie tatsächlich vom Schicksal der Menschheit, welches von ihm abhinge?
’Na, wie banal, wenn es weiter nichts ist’, dachte er spöttisch.
Doch etwas anderes gab ihm noch mehr zu denken. Woher hatte die Anruferin die Telefonnummer seines Mobiltelefons?
Diese kannte bisher nur die CIA, von der er das Handy für seine wichtige Arbeit bekam. Gleichsam war seine Email-Adresse von diesen erst vor einigen Tagen eingerichtet worden - ebenfalls geheim.
Und seine Gesprächspartnerin am anderen Ende der Leitung hatte mit allem recht. Er war in der Tat eine Kapazität.
Obwohl erst 35 Jahre alt, bekleidete er eine Professur für Archäologie und alte Sprachen. Dass sie das wusste, konnte sie allerdings gegoogelt haben.
Er war aufgedreht, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Nur so zum Spaß, mehr aus Neugierde, ohne dass er an die Ernsthaftigkeit des Anrufs glaubte oder daran, eine Mail bekommen zu haben, ging er zu seinem Notebook.
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