Sie wusste nicht einmal, was sie denken sollte. Ein schrecklicher Verdacht drängte sich ihr auf:
’Bin ich tot? Ist dies der vielbeschriebene, geheimnisvolle Übergang in den Himmel?’
Kaum dazu fähig, dem hurtigen Ablauf des Geschehens zu folgen, sah sie, wie der sie festhaltende Unhold, dessen bronzefarbene Glatze ihr erst jetzt gewahr wurde, in hohem Bogen an den Straßenrand flog, sich mit einem Schmerzensschrei abrollte und bemühte, das Weite zu suchen. Der zwei-Meter-Mann blickte verdutzt, spurtete los, buchstäblich seine Beine in die Hände nehmend.
Die Gegenwart, das plötzliche, offenkundig unerwartete Auftauchen dieser dritten Person, welcher für die Verbrecher dem Anschein nach kein Unbekannter zu sein schien, jagte jenen eine Heidenangst ein. Tamara fragte sich, ob sie jetzt vom Regen in die Traufe kam, ob sie jetzt noch Schrecklicheres erwartete.
„Ja, verschwindet, ihr elenden, abartigen Schwuchteln“, schrie ihr Retter den Flüchtenden nach, „die Eier sollte man euch abschneiden, falls ihr welche habt.
Wenn ich euch erwische, werde ich sie euch zu fressen geben, bevor ich eure widerlichen Köpfe abreiße. Eure verblödete Mutter hat euch wohl zu heiß gebadet, ihr degenerierten Scheißkerle.“
Nachdem die Angreifer verschwunden waren, wandte er sich unverzüglich an Tamara. Er lief jetzt auf dem Boden, klappte wie selbstverständlich seine Flügel ein, die ganz in seinem Rücken verschwanden, als wären sie nie dagewesen, als seien sie bestenfalls der Wunschvorstellung einer zu tiefst geschockten Frau entsprungen.
Tamara konnte immer noch kein Wort sagen, wobei sie beiläufig zu erkennen meinte, dass es sich nicht um zwei, sondern um mehrere Flügel gehandelt hatte. Aber, das war für sie jetzt nebensächlich.
„Geht es dir gut?“, sprach er sie mit einer sanften, beruhigend wirkenden Stimme an.
„Ich bin wohl im richtigen Augenblick gekommen.“
Tamara schwankte, drohte umzufallen, jedoch, dies erkennend, kam der Fremde näher, hielt sie stützend am Arm fest. Sie fühlte seine Stärke.
„Darf ich dich nach Hause bringen oder kann ich dir sonst irgendwie helfen?“
Tamara antwortete, ihre Stimme wiederfindend, zitternd, noch völlig außer Atem, als wäre sie einen Marathon gelaufen, während ihr Puls langsam nach unten ging:
„Danke, vielen … Dank.“
„Ich dachte“, stammelte sie schnaufend weiter, „ähm, ich meine…, woher…, die Flügel…, huch, ich weiß nicht wie ich ihnen danken soll?“
„Nun, du könntest damit anfangen, mir deinen Namen zu sagen.“
„Tamara, Tamara Rosalia. Waren das Flügel?
Sind sie…, bist du vielleicht ein Engel - mein Gott, welch einen Blödsinn rede ich da? Die Nerven…!“
Kopfschüttelnd fing sie an, verlegen zu kichern. Auch ihr Beschützer lachte leise auf.
„Du darfst es niemandem verraten! Ich bin genau genommen dein Schutzengel und jetzt bringe ich dich nach Hause.“
„Nein, ähm, nein, in meiner kleinen Wohnung hätte ich alleine bestimmt Angst, nach diesem Erlebnis, nein, auf keinen Fall!“, wehrte sich Tamara verzweifelt.
Erstaunlicherweise war sie wieder in der Lage, selbstbewusst die Initiative zurückzugewinnen. In ihr Zuhause wollte sie unter keinen Umständen.
Was sie die ganze Zeit über von Engeln gestammelt hatte, kam ihr sogleich ziemlich peinlich vor, zumal sie dachte, dass sie sich die Flügel, als Schutzreaktion ihres Gehirns in einer extremen Notsituation, womöglich nur eingebildet hatte.
„Möchtest du mir stattdessen nicht noch etwas Gesellschaft leisten“, kam ihr eine spontane Idee, „bis ich mich wieder beruhigt habe?
Nicht weit von hier gibt es ein Schnellrestaurant, welches um diese Zeit noch offen hat. Da könnten wir uns eine Weile gemütlich hinsetzen.
Wie heißt du eigentlich?“
„Nenne mich Luc, einfach Luc und du bezahlst, ich habe nämlich keine Silberlinge einstecken“, antwortete er etwas eigentümlich.
Die seltsame Wortwahl ihres Helden registrierte sie allenfalls am Rande, zu geschockt war sie noch von dem Überfall.
„Schon gut, schon gut, Luc“, ging sie auf seinen Wunsch ein, „das Lokal ist nur 15 Gehminuten von hier entfernt.
Darf ich mich bei dir unterhaken, ich habe immer noch ganz weiche Knie?“
„Oh, ich bitte darum“, verhielt sich Luc ganz gentlemanlike.
Tamara, die bemüht war, wieder zu lächeln, hielt sich an seinem Arm fest, während beide Richtung Fast-Food-Gaststätte schlenderten, dabei zunächst vereinbarten, erst am nächsten Morgen die Polizei zu informieren und danach belanglos weiterredeten. Trotz seiner dunklen Kleidung, die an einen Geistlichen erinnerte, von denen es in Rom nicht gerade Wenige gab, hatte sie das Gefühl, einerseits vorsichtig sein zu müssen, schließlich konnte Kleidung täuschen, andererseits zu ihm hingezogen zu sein.
Alles in allem erinnerte es sie an ihr Empfinden zu Bruder Michael, den sie auch anziehend fand, was bei Luc andererseits aber konkret daran liegen konnte, dass er sie aus einem lebensbedrohlichen Dilemma befreite und damit ihr ganz persönlicher Held war.
„Was gibt es dort zu essen?“, fragte Luc spontan.
„Na, Fast-Food eben - Hamburger, Coke und dergleichen.“
„Was sind das, Hamburger und Coke?“, fragte er irritiert weiter.
Tamara blickte ihn erstaunt von der Seite aus an.
„Das meinst du jetzt nicht im Ernst? Hast du noch nie Fast-Food gegessen?
Du nimmst mich doch auf den Arm?“
„Nein“, blieb er völlig ernst, „das würde ich bei einem hübschen Weib, wie dir, nie tun.
Und nach langer Zeit gelüstet es mich sehr, wieder menschliche Nahrung zu genießen.“
„Du redest so lustig“, kicherte Tamara los.
Nach weiteren Minuten schnellen Gehens, wobei sie sich in seiner Nähe sehr sicher fühlte, erreichten sie den zu dieser Zeit nur noch mäßig besuchten Schnellimbiss. Tamara orderte zwei große Spezialburger, eine riesige Portion Pommes mit Ketchup sowie zwei Becher mit eisgekühlter Coke samt Röhrchen.
Luc nahm das Tablett, Tamara bezahlte und beide setzten sich an einen freien Tisch. Schon nach dem ersten Bissen in den Hamburger hellte sich dessen Gesicht anhand der unerwarteten Gaumenfreuden auf.
„Wow, ist das gut“, sprach er mit vollem Mund.
Ausgiebig genoss er das Mahl, kaute bedächtig langsam. Auch bei Pommes oder Cola war ihm seine Überraschung, angesichts des angenehmen Geschmacks, anzusehen.
Tamara nahm es zum einen mit viel Humor, wobei sie oft lachen musste, zum anderen mit einer leichten Ungläubigkeit. Sie fragte sich, in welchem Teil der Erde sich ein derart interessanter Kerl versteckt gehalten hatte, beziehungsweise, wo es denn noch keine Hamburger mit Pommes gab?
’Wie ein Priester wirkt er nicht’, zog sie gedanklich eine frauentypische Schlussfolgerung, ’so wie er redet.
Ehering trägt er auch keinen! Wenn das mal kein gutes Omen ist!’
Allmählich schob sie ihr schreckliches Erlebnis beiseite. Nur das Thema Engel spukte beharrlich weiter in ihrem Kopf.
„Du sagtest, du seist mein Schutzengel“, ging sie darauf nochmals ein, nachdem sie gegessen hatten.
„Mir klingen die Worte noch im Ohr. Meintest du das im metaphorischen Sinn, weil du mir helfen konntest?“
„Nein, ganz und gar nicht“, erklärte er im Brustton nüchterner Überzeugung, „geholfen hätte ich dir sowieso, denn ich bin ein Engel!
Allerdings muss ich zugeben, einer, der seit tausenden von Jahren nicht mehr auf der Erde weilte. Wenn du möchtest, beweise ich es, wobei wir dazu in deine Wohnung gehen sollten - ich will ja keine Panik verbreiten.“
Luc lächelte amüsiert, so als hätte er bei der Vorstellung, sich hier zu outen, eine lustige Begebenheit aus der Vergangenheit vor Augen.
„Meinst du, ich könnte auch bei dir übernachten? Ich habe hier sonst niemanden, den ich kenne?“
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