Sie läuft zu Birtas Haus und klopft an die Tür. Kurz darauf öffnet Magolus‘ Gehilfin.
„Golina! Was machst du denn hier?“
„Ist der Unterricht bald zu Ende?“
„Unterricht? Der ist doch heute ausgefallen. Maffi ist mit ihren Eltern im Wüstendorf und Nano ist nicht erschienen.“
Ein eisiger Schauer läuft Golina über den Rücken. „Nano war heute nicht bei dir?“
Birta schüttelt den Kopf. „Wo du das schon ansprichst: Das Verhalten deines Sohnes im Unterricht ist absolut inakzeptabel. Du solltest wirklich mal mit ihm ...“
Den Rest hört Golina nicht mehr, denn sie hastet bereits zurück zum Flussufer.
„Kommt, helft mir suchen!“, ruft sie. „Nano ist heute nicht im Unterricht gewesen. Das bedeutet, Olum hat sich vielleicht doch nicht getäuscht und da ist wirklich ein Monster auf der anderen Seite des Flusses.“
„Äh, ich kann dir leider nicht helfen, Golina“, erklärt Olum. „Ich habe die Fische schon viel zu lange alleingelassen. Das macht sie nervös.“
„Und ich muss nach der, äh, Pilzsuppe sehen, die ich auf dem Herd habe“, erklärt Hakun.
„Ich muss auch nach meiner Pilzsuppe sehen“, verkündet Kaus.
„Denk dir gefälligst eine eigene Ausrede aus!“, beschwert sich Hakun.
„Wieso Ausrede?“, fragt Kaus. „Ich habe wirklich Pilzsuppe auf dem Herd. Du etwa nicht?“
„Äh, doch, natürlich!“
Rasch machen sich die beiden Drückeberger aus dem Staub.
„Was ist mit dir, Asimov?“, fragt Golina. „Hilfst du mir wenigstens?“
„Ich würde ja gerne“, meint Asimov, „aber vom Wasser bekomme ich Rostflecken, und den Umweg über die Brücke zu nehmen dauert viel zu lange. Außerdem glaube ich nicht an die Monster-Theorie.“
Golina seufzt. Ausgerechnet jetzt sind Kolle und Margi im Wüstendorf und Primo amüsiert sich vermutlich mit Willert und Ruuna, während sein Sohn in Todesgefahr schwebt. Sie könnte zurück ins Dorf zu Primos Vater Porgo laufen, der ihr bestimmt helfen würde, seinen Enkelsohn zu suchen. Aber das kostet zu viel Zeit. Also durchquert sie den Fluss allein und sieht sich auf der anderen Seite um.
„Nano?“, ruft sie „Nano, hörst du mich?“
In der Nähe erklingt ein Platschen. Es kommt aus der Richtung eines kleinen Teichs, der in einer Senke liegt.
Als Golina sich vorsichtig nähert, hört sie ein Zischen. Es klingt, als ob jemand „Psst!“ macht. Oder wie das Zischen eines Knallschleichers ...
Golina wird auf einmal bewusst, dass sie unbewaffnet ist. Wenn sich dort in der Kuhle wirklich ein Monster verbirgt, das ihren Sohn gefressen hat ... Doch die Sorge um Nano treibt sie vorwärts. Vielleicht ist es noch nicht zu spät!
Mit angehaltenem Atem nähert sich Golina dem Teich. Als sie über den Rand der Kuhle blickt, stößt sie einen spitzen Schrei des Entsetzens aus.
4. Geschwänzt
Eine Stunde zuvor, während Primo und Willert noch bei Golina in der Schmiede sind, stapft Nano missmutig die Dorfstraße entlang auf Birtas Haus zu. Er hasst den Unterricht bei Magolus’ Gehilfin, denn sie ist streng und total ungerecht. Sie bestraft ihn dauernd, obwohl er so gut wie nie Unsinn macht, außer, wenn ihm langweilig ist, und das passiert in Birtas Unterricht ziemlich oft.
Leider weiß sie immer sofort, dass es Nano war, der ihre Bücher unter dem Bett versteckt oder ein Schwein an die Wand gemalt oder ihr ein Ei auf den Stuhl gelegt hat, so dass sie sich reinsetzt, und dann kriegt er eine Menge Ärger.
Daran ist bloß Maffi schuld! Nicht, dass sie Nano verpetzen würde, aber sie macht nie Unsinn, und deshalb wird immer nur er bestraft. Das ist total unfair! Und jetzt ist Maffi auch noch mit ihren Eltern im Wüstendorf und muss nicht zum Unterricht und das ist noch ungerechter! Vor allem, weil Birta dann die ganze Zeit auf Nano achtet und er überhaupt keinen Blödsinn machen kann.
Kurz, bevor er Birtas Haus erreicht, kommt Nano ein Gedanke: Sobald er an ihre Tür klopft und sie öffnet, lässt sie ihn nicht mehr aus den Augen. Wenn er also heute Morgen noch Blödsinn machen will, dann sollte er es besser jetzt gleich tun!
Er sieht sich um und überlegt, welchen Streich er spielen könnte. Hakuns Hühner durchs Dorf scheuchen? Olum heimlich einen alten Schuh an seine Angel binden? Priester Magolus, der um diese Zeit immer in seiner Kirche schläft, die Decke wegziehen? Aber irgendwie macht das alles nur halb so viel Spaß, wenn Maffi nicht dabei zusieht und kichert.
Wenn sie jetzt hier wäre, könnte er mit ihr im Wald verstecken spielen. Aber allein macht auch das keinen Spaß. Andererseits: Maffi ist zwar nicht da, aber er könnte sich ja trotzdem im Wald verstecken. Dann müsste er jedenfalls nicht in die Schule, und vielleicht würden die Erwachsenen gar nichts merken und er bekäme keinen Ärger. Birta könnte er morgen einfach sagen, er sei krank gewesen.
Nano grinst. Das ist die perfekte Idee! Auf diese Weise kann er Blödsinn machen, muss nicht zur Schule und wird nicht dafür bestraft!
„Hallo, Nano!“, sagt in diesem Moment der alte Lausius, der gerade aus der Bibliothek kommt. „Musst du nicht in die Schule?“
„Äh, nein“, stammelt Nano und blickt rasch zu Boden, damit Lausius nicht sieht, wie er rot wird. „Ich ... ich muss in den Wald, Pilze suchen, für Mama.“
„Was stehst du dann noch hier herum? Beeil dich! Oder glaubst du, die Pilze kommen von selbst angelaufen?“
„Nein“, erwidert Nano und läuft rasch zum Fluss.
Als er das Ufer erreicht, blickt er sich um. Der alte Lausius steht auf der Straße und beobachtet ihn.
Nano durchquert das Wasser und betritt den düsteren Wald. Auf einmal hat er ein flaues Gefühl im Bauch. Nicht, dass er Angst vor Monstern hätte – schließlich ist er schon ein richtiger Abenteurer und war sogar schon im Nether. Aber ein bisschen unheimlich ist es trotzdem.
Sicherheitshalber geht er nicht zu tief in den Wald hinein, sondern bleibt am Rand in der Nähe des Flussufers. So kann er sich wenigstens nicht verirren.
Eine Weile freut er sich, dass er so schlau ist und Birta ein Schnippchen geschlagen hat. Doch dann sieht er auf einmal seinen Vater zusammen mit Willert und Paul aus dem Dorf kommen. Sind sie etwa seinetwegen hier?
Er versteckt sich hinter einem Baum und beobachtet, wie die drei den Fluss durchqueren. Doch sie laufen an Nano vorbei. Vielleicht wollen sie zu Ruuna.
Erleichtert atmet er auf. Das war knapp!
Er überlegt, was er jetzt tun soll. So ganz allein im Wald ist es eigentlich ziemlich langweilig. Aber er kann jetzt nicht mehr zu Birta gehen, ohne Ärger zu bekommen, weil er viel zu spät zum Unterricht erschienen ist. Und nach Hause kann er erst recht nicht.
Nach einer Weile hört er in der Ferne Rufe. Offenbar suchen Willert und Papa nach Ruuna. Die Rufe werden lauter, als sie näherkommen. Wenn sie Nano hier finden, bekommt er eine Menge Ärger.
Er sieht sich erschrocken um. Es gibt hier am Flussufer keine gute Versteckmöglichkeit, auf der anderen Seite des Flusses ebenso wenig. Wenn er nicht erwischt werden will, bleibt ihm nichts anderes übrig, als dem Flussufer Richtung Nordwesten zu folgen und sich weiter vom Dorf zu entfernen.
Nach einer Weile werden die Rufe leiser. Doch dafür hört Nano plötzlich ein seltsames Brummen, das ihm bekannt vorkommt, ohne dass er genau weiß, woher.
Neugierig folgt er dem Geräusch, bis er schließlich auf einer kleinen Lichtung unweit des Flussufers einen großen Rahmen aus schwarzem Stein entdeckt, in dessen Mitte ein violettes, waberndes Leuchten zu sehen ist. Ein Netherportal!
Wer mag es geschaffen haben und warum?
Nano überlegt, ob er das Portal durchschreiten soll, um ganz kurz zu gucken, was auf der anderen Seite ist. Doch er schreckt davor zurück. Der Nether ist ziemlich gefährlich und außerdem war es da schrecklich heiß und hat komisch gerochen.
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