„Irgendwann wurde es selbst Kaus, Hakun und Olum zu langweilig, den ganzen Tag die Glocke zu läuten“, erklärt Golina.
„Außerdem haben wir vor zwei Wochen einen großen Glockenläutwettbewerb veranstaltet“, erzählt Primo und zwinkert Willert zu. „Als Hauptgewinn gab es einen großen Topf Pilzsuppe, den Golina frisch gekocht hatte. Seitdem ist Ruhe.“
„Ich verstehe immer noch nicht, warum bei dem Wettbewerb keiner mitgemacht hat“, grummelt Golina.
Schließlich erreichen sie die Schmiede, in der Primo, Golina und Nano wohnen.
„Möchtest du vielleicht etwas Pilzsuppe, Willert?“, fragt Golina. „Sie ist noch von dem Glockenläutwettbewerb übrig.“
Willert würde am liebsten ablehnen, aber Primo und Nano sehen ihn so flehend an, dass er das Angebot nicht ausschlagen kann.
Die Suppe schmeckt etwas bitter, so als wäre sie angebrannt, aber wenigstens explodiert sie nicht und hat auch sonst keine unangenehmen Nebenwirkungen.
Nach dem Abendessen sitzen sie noch etwas beisammen und reden über die Abenteuer, die sie gemeinsam erlebt haben.
„Ich werde nie vergessen, wie du mitten in der Nacht an mein Haus geklopft hast, Primo“, erinnert sich Willert daran, wie sie sich kennengelernt haben.
„Ich auch nicht“, stimmt Primo zu. „Wenn du nicht aufgemacht hättest, wären Kolle und ich damals zu Nachtwandlern geworden.“
„Wo ist Kolle eigentlich?“, fragt Willert. „Ich habe ihn noch gar nicht gesehen.“
„Er ist mit Margi und Maffi im Wüstendorf“, erklärt Golina. „Sie besuchen Caro und ein paar andere Leute, die Margi von früher kennt.“
„Vielleicht sollte ich das mit Ruuna auch mal wieder machen“, überlegt Willert laut. „Schließlich stammt sie ja auch aus dem Wüstendorf.“
Als ihm wieder einfällt, dass Ruuna immer noch ganz allein im Wald ist, wird ihm auf einmal schwer ums Herz. Am liebsten würde er sofort aufbrechen und zu ihr gehen. Doch wenn er jetzt wieder klein beigibt, wird sich nie etwas ändern. Also bleibt er bei Primo und seiner Familie.
Sie unterhalten sich noch eine Weile, dann gehen sie alle schlafen. Willert legt sich auf das notdürftige Bett, das Golina aus ein paar Decken und Schaffellen für ihn bereitet hat, doch er kann lange nicht einschlafen. Immer wieder muss er an Ruuna denken, während er in der Ferne das dumpfe, langgezogene Stöhnen der Nachtwandler hört.
2. Wo ist Ruuna?
Als Primo aufwacht, ist Willert bereits aufgestanden und hilft Golina in der Küche beim Brotbacken.
„Guten Morgen!“, sagt er schläfrig, streckt sich und steht auf. „Das riecht hier aber gut!“
Golina wirft ihm einen finsteren Blick zu.
„Wenn du mir öfter in der Küche helfen würdest so wie Willert, dann könnte ich auch häufiger Brot backen und es gäbe nicht immer bloß Pilzsuppe.“
„Na ja, ich bin es gewohnt“, beschwichtigt Willert. „Ruuna sollte man in der Küche besser nicht allein lassen.“
„Au ja!“, ruft Nano, der ebenfalls gerade aufsteht. „Ab jetzt hilft dir Papa ganz bestimmt immer! Dann müssen wir nicht immer diese scheußliche ...“
„Musst du nicht zu Birta in den Unterricht?“, unterbricht Primo seinen Sohn.
„Nein“, verkündet Nano. „Ich weiß nämlich schon alles!“
„Ach ja?“, sagt Primo. „Wie viel ist denn drei mal fünf?“
„Äh, also, das hatten wir noch nicht“, behauptet Nano.
Primo ist froh, dass Nano keine Antwort gegeben hat. Er hätte nicht überprüfen können, ob sie stimmt, denn er ist sich selbst nicht sicher, was das richtige Ergebnis ist.
„Los, Abmarsch in den Unterricht!“, befiehlt er.
„Aber ich habe noch gar nicht gefrühstückt“, jammert Nano.
„Na gut, das Brot dauert noch etwas, aber du kannst einen Teller kalte Pilzsuppe haben“, sagt Golina.
„Oh je, ich glaube, ich komme zu spät zum Unterricht!“, ruft Nano und stürmt aus dem Haus.
Golina sieht ihm stirnrunzelnd nach.
„Schmeckt meine Pilzsuppe wirklich so scheußlich?“, fragt sie.
„Aber nein, ganz und gar nicht“, widerspricht Willert, während Primo gleichzeitig sagt: „Sie ist vielleicht manchmal ein ganz klein wenig angebrannt.“
Golina blickt zwischen Willert und Primo hin und her. Dann lächelt sie Willert an.
„Du bist wirklich ein sehr höflicher Gast und weißt, wie man sich benimmt, ganz im Gegensatz zu gewissen männlichen Bewohnern dieses Hauses. Du kannst gerne bei uns bleiben, solange du möchtest.“
„Tut mir leid, aber ich muss zurück zu Ruuna“, erwidert Willert.
„Willst du nicht wenigstens vorher noch frühstücken? Wie gesagt, das Brot dauert noch, aber die Pilzsuppe ...“
„Nein, danke. Ich glaube, ich habe Ruuna schon viel zu lange alleingelassen.“
Golina macht ein betrübtes Gesicht. Primo ahnt, dass sie ihre schlechte Laune an ihm auslassen wird, sobald ihr Gast aus dem Haus ist.
„Was hältst du davon, wenn ich dich begleite, Willert?“, schlägt er vor. „Ich könnte euch beim Wiederaufbau eurer Hütte helfen.“
„Das ist nicht nötig“, erwidert Willert. „Ich schaffe das schon. Schließlich habe ich einige Übung darin.“
„Aber es würde mir wirklich nichts ausmachen“, meint Primo. „Seit wir aus Utopia zurück sind, ist nichts passiert, was meinen Einsatz als Dorfbeschützer erfordert hätte. Außerdem würde mir der Spaziergang im Wald sicher guttun.“
„Also schön, wie du meinst“, sagt Willert.
„Aber zum Mittagessen bist du wieder zu Hause!“, ermahnt ihn Golina.
„Aber natürlich, Linchen!“, sagt Primo und gibt ihr rasch einen Kuss.
„Du sollst mich nicht Linchen nennen!“, schimpft sie, doch sie scheint nicht ernsthaft böse zu sein.
Draußen kommt ihnen Paul entgegen.
„Komm mit!“, ruft Primo. „Du kannst im Wald Kaninchen jagen, wenn du willst.“
Das lässt sich der Wolf nicht zweimal sagen. Schwanzwedelnd folgt er den beiden.
Sie durchqueren den Fluss und marschieren eine Weile durch den Wald. Als sie die Lichtung erreichen, auf der Willerts Hütte stand, ist dort nur ein großer Krater im Boden zu sehen. Der Kugelwolf sitzt immer noch am Rand der Lichtung.
„Und das nennst du vorsichtig sein?“, krächzt Robinson, der auf Buddas Schulter sitzt. „Wenn wir keine Hütte haben, wo sollen wir denn dann schlafen?“
Paul schnüffelt an dem schwarz-weiß gefleckten Dschungeltier, das sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt.
„Die Tiere sind noch hier“, stellt Primo fest. „Sie kann nicht weit sein.“
„Ruuna?“, ruft Willert. „Ruuna, wo bist du?“
Er erhält keine Antwort.
Gemeinsam suchen sie den Wald rund um die Lichtung ab, finden jedoch keine Spur von Ruuna.
„Such, Paul!“, ruft Primo. „Such Ruuna!“
Der Wolf bellt und rennt schwanzwedelnd los. Immer wieder schnüffelt er am Boden und ändert hin und wieder die Richtung. Primo und Willert hetzen hinter ihm her.
Schließlich bleibt Paul vor einem Loch im Boden stehen und bellt.
Primo kniet sich neben das Loch und ruft: „Ruuna, bist du da drin?“
„Das kannst du dir sparen“, meint Willert. „Das ist bloß ein Fuchsbau.“
Primo wirft Paul einen finsteren Blick zu.
„‚Such Ruuna‘, hatte ich gesagt“, schimpft er. „Nicht ‚such den Fuchs‘!“
Paul sieht ihn fragend an.
„Der Wolf kann nichts dafür“, seufzt Willert. „Das ist alles meine Schuld. Ich hätte Ruuna nicht die ganze Nacht allein lassen dürfen. Was, wenn ihr etwas passiert ist? Sie ist doch so unvorsichtig!“
„Ach was“, versucht Primo ihn zu beruhigen. „Ruuna ist doch schon öfter verschwunden. Sie taucht bestimmt bald wieder auf.“
„Ja, aber was, wenn nicht? Was, wenn ihr diesmal wirklich etwas zugestoßen ist? Ohne sie würde ich mein Leben lang nicht mehr glücklich werden!“
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