„Wir finden sie schon. Komm, wir suchen einfach weiter.“
Sie marschieren kreuz und quer durch den Wald und rufen immer wieder den Namen der Hexe, doch Ruuna bleibt verschwunden.
Schließlich stehen sie wieder auf der Lichtung.
„Im Wald scheint sie nicht zu sein“, stellt Primo fest. „Hast du eine Idee, wo sie sonst sein könnte?“
Willert schüttelt den Kopf.
„Nein. Das heißt ...“
Er stockt, so als fiele es ihm zu schwer, seinen Gedanken auszusprechen.
„Das heißt was?“, hakt Primo nach.
„Vielleicht ... war ich zu grob zu ihr“, überlegt Willert. „Ich war wütend auf sie, weil sie die Hütte schon zum dritten Mal in die Luft gesprengt hat, seit wir aus Utopia zurück sind. Ich fürchte, ich habe sie angebrüllt. Vielleicht ... hat sie mich jetzt nicht mehr lieb. Vielleicht ist sie zurück in ihre Hütte im Sumpf gegangen, weil sie mich nie wiedersehen will.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, erwidert Primo. „Ruuna ist manchmal unzuverlässig, vergesslich, tollpatschig, verwirrt, vorlaut, leichtsinnig, chaotisch, unbekümmert, eigensinnig, sorglos, unordentlich und hin und wieder ein bisschen durcheinander. Aber sie ist ganz bestimmt nicht nachtragend.“
Willert nickt. „Du hast recht. Aber wo kann sie nur sein?“
„Vielleicht ist sie in der Schleimhöhle“, spekuliert Primo. „Du weißt schon, die Höhle im Gebirge, wo sie den Riesenschleim gezüchtet hat, den sie damals aus dem Sumpf mitgebracht hat.“
Willert schlägt sich an den Kopf.
„Natürlich! Warum habe ich nicht gleich daran gedacht! Sie war zwar schon länger nicht mehr dort, aber es ist gut möglich, dass sie die Nacht in der Höhle verbracht hat.“
Sie eilen nach Norden, bis sie einen Fluss erreichen, der am Fuß des großen Gebirges verläuft. Nachdem sie ihn durchquert haben, klettern sie eine steile Felswand empor, bis sie die Höhle erreichen, in der Ruuna ihr Schleimexperiment gemacht hat. Doch von der Hexe finden sie auch dort keine Spur.
„Sie ist wohl doch zurück in den Sumpf gegangen“, sagt Willert mit hängendem Kopf. „Wäre ich doch bloß netter zu ihr gewesen! Ich wollte sie zur Vernunft bringen, aber das war dumm von mir. Ruuna kann man nicht zur Vernunft bringen. Und eigentlich will ich das auch gar nicht. Ich will, dass sie genau so bleibt, wie sie ist.“
„Auch, wenn sie hin und wieder die Hütte in die Luft sprengt?“
„Auch dann. Schließlich ist es ja nicht so schlimm. Ich baue die Hütte einfach noch mal neu und alles ist wieder gut. Hach, ich vermisse sie so sehr!“
„Und was willst du jetzt tun?“
„Ich werde nach Norden gehen und sie suchen. Wenn sie wirklich zu ihrem Sumpf zurückgekehrt ist, muss sie am Wüstendorf vorbeigekommen sein. Ich werde Caro fragen, ob sie sie gesehen hat.“
Primo zeigt in den Himmel, der sich bereits orange färbt.
„Komm erstmal mit zurück ins Dorf“, schlägt er vor. „Du kannst dich bei uns ausruhen und morgen früh aufbrechen. Dann kannst du auch etwas von Golinas Pilzsuppe mitnehmen, die du so gerne magst. Als Reiseproviant.“
Willert guckt skeptisch, aber er widerspricht nicht. „Einverstanden.“
Auf dem Weg zurück ins Dorf rufen sie immer wieder Ruunas Namen, erhalten jedoch nur das Unngh der Nachtwandler zur Antwort, die jetzt, bei Sonnenuntergang, aus ihren Verstecken kommen.
3. Alarm
Am Morgen desselben Tages, während Primo und Willert im Wald herumirren und Ruuna suchen, starrt Golina missmutig auf den verschrumpelten schwarzen Klumpen, den sie gerade aus dem Backofen geholt hat. Er sieht aus wie ein großes Stück Kohle.
Das ist alles Primos und Nanos Schuld! Wenn die beiden nicht immer solche Unordnung machen würden, müsste sie nicht dauernd hinter ihnen herräumen und hätte bestimmt nicht vergessen, das Brot rechtzeitig aus dem Ofen zu nehmen ...
Dingdongeldingeldongdingdingdong! Wildes Gebimmel reißt Golina aus ihren Gedanken. Was soll das denn jetzt schon wieder? Wer immer diesen Krach macht, soll bloß nicht glauben, er bekäme zur Belohnung auch noch Pilzsuppe! Der Glockenläutwettbewerb ist schließlich längst vorbei.
Das Gebimmel hört nicht auf. Genervt marschiert Golina zum Dorfplatz, wo sich bereits eine kleine Gruppe von Dorfbewohnern versammelt hat. Sie stehen um Olum herum, der wie verrückt die Glocke läutet.
„Ich glaube, das heißt: ‚Morgen früh geht die Sonne auf‘“, vermutet Hakun gerade.
„Quatsch, das bedeutet: ‚Gestern hat es geregnet!‘“, widerspricht ihm Kaus.
„Aber gestern hat es doch gar nicht geregnet“, entgegnet Hakun.
„Sag das nicht mir, sag das Olum!“
„Könnt ihr mal mit diesem Krach aufhören?“, schaltet sich Golina ein. „Was soll das denn überhaupt?“
„Kaus sagt, Olum will mit dem Gebimmel darauf hinweisen, dass es gestern geregnet hat“, erklärt Hakun. „Aber das kann nicht sein, weil, gestern hat es gar nicht geregnet! Ich bin deshalb der Ansicht ...“
Golina ignoriert ihn und packt Olum am Arm.
„Was soll das?“, ruft sie. „Warum läutest du die Glocke?“
„Ich mache Dingdongeldingeldongdingdingdong, das bedeutet ‚Alarm! Monster greifen an!‘“, erklärt der Fischer.
„Unsinn!“, mischt sich Magolus ein. „‚Alarm, Monster greifen an‘ geht so: Ding, Dong, Ding ...“
„Was denn für Monster?“ unterbricht ihn Golina. „Meinst du etwa Bienen?“
„Bienen?“, wiederholt Olum. „Nein, wieso? Bienen sind doch keine Monster!“
„Aber sie können stechen“, gibt Hakun zu bedenken. „Und außerdem ...“
„Könnt ihr jetzt endlich mal ruhig sein?“, brüllt Golina. „Was für Monster hast du gesehen, Olum?“
„Genaugenommen war es nur eins, aber ich weiß die Melodie für ‚Alarm! Ein Monster greift an!‘ nicht, und deshalb ...“
Golina packt ihn am Arm und schüttelt ihn. „Was für ein Monster, Olum?“
„Es sah total schrecklich aus“, sagt der Fischer. „Fast wie ein Schwein, aber es ging auf zwei Beinen, und ein Teil seines Fleisches war verfault wie bei einem Nachtwandler.“
Hakun lacht. „Du spinnst ja, Olum! Was soll denn das für ein Monster sein? Ein Schweinenachtwandler vielleicht? Oder ein Nachtwandelschwein? Wuhahaha!“
„Ich weiß nicht, was das für ein Monster war“, erwidert Olum, „aber Nano war bei ihm, und ...“
„Was?“, schreit Golina. „Nano war bei ihm? Zeig mir sofort die Stelle, wo du das Monster gesehen hast!“
„Na gut, komm mit!“
Olum geht mit Golina in Richtung Flussufer. Kaus und Hakun folgen ihnen mit etwas Abstand. In diesem Moment kommt Asimov die Dorfstraße entlang. Die Katze Mina sitzt wie immer auf seinem Kopf wie eine Pelzmütze.
„Was macht ihr denn schon wieder für einen Stress?“, fragt er.
„Olum sagt, er habe ein Monster gesehen und Nano sei bei ihm gewesen“, berichtet Golina. „Schnell, komm mit! Du musst mir helfen, meinen Sohn zu retten!“
„Immer mit der Ruhe“, erwidert der Golem. „Die Wahrscheinlichkeit, am hellen Tag ein Monster in der Nähe des Dorfs zu sehen, liegt bei höchstens 25,7 Prozent. Ihr Knollnasen habt eine ziemlich unzuverlässige Wahrnehmung. Alles deutet also auf eine Sinnestäuschung hin.“
„Das war keine Sinnestäuschung!“, widerspricht Olum. Er führt Golina und Asimov zum Ufer.
„Da drüben war es!“, behauptet er und deutet auf die Wiese auf der anderen Seite, auf der jedoch nichts zu sehen ist. „Ich bin ganz sicher! Wahrscheinlich hat das Monster Nano inzwischen aufgefressen und ist weggelaufen.“
Beunruhigt durchquert Golina den Fluss und sieht sich auf der anderen Seite um, findet jedoch keine Hinweise darauf, dass ein Monster hier war. Wahrscheinlich hat Asimov recht: Olum muss sich getäuscht haben. Trotzdem hat sie ein ungutes Gefühl im Bauch.
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