Dass wir in Europa 70 Jahre Frieden und Wohlstand haben, regt heute niemanden mehr auf. Der Mensch ist undankbar. Er will immer mehr und gewöhnt sich schnell an gute Zeiten. Einigen scheint das zu wenig zu sein: Sie suchen die Randale wie die Motten das Licht. Wegbereiter dieser extremen, populistischen Manie sind die vermeintlichen Besserwisser, die Ich-Menschen, die über den Scherbenhaufen, den sie hinterlassen, lachen und bereits auf der Suche nach neuen Opfern sind. Dabei ist die Suche nach dem Glück heute zu einem großen Geschäft geworden: Psychologen, Ratgeber, Coach-Experten wissen, wie es sein muss – und verdienen an der Suche nach dem Glück. Dabei ist das Streben nach Glück ein ganz natürliches menschliches Empfinden. Gut, dass das Glück viele Gesichter hat. Den Verführern sollten wir die kalte Schulter zeigen, sie haben zu allen Epochen nur Unheil produziert.
Vielleicht ist der Advent die Zeit, sich einmal selbst auf den Prüfstand zu stellen. Es ist sicher nicht alles Gold, was glänzt, es ist aber auch nicht alles so schlimm, wie uns täglich weißgemacht wird. Denn die meisten Untergangs-Szenarien, mit denen wir konfrontiert wurden, sind nicht eingetreten. Weil es immer wieder Menschen gibt, die uneigennützig helfen, hingucken und handeln. Zum Beispiel das riesige bewundernswerte Heer der Ehrenamtlichen, bei denen wir uns immer wieder bedanken sollten. Nicht nur zur Weihnachtszeit, in der das göttliche Kind in der Krippe die Welt veränderte. Der Grund für die Krise des Christentums ist nicht das Christentum selbst, sondern der eitle Mensch, der sich anmaßt alles zu wissen, alles zu können und alles zu dürfen. Der göttliche Auftrag, sich die Welt untertan und urbar zu machen, heißt ja nicht, sie rücksichtslos zu zerstören. Auch nicht verbal. Schon vor Urzeiten ahnte der Mensch, dass er Teil der Natur ist und entwickelte einen religiösen Respekt. Und er wusste, dass derjenige, der sie bezwingen will, sich selbst bezwingt . . .
Es dauert eine ganze Weile, bis mein mehrfaches Schellen Erfolg hat. Die Haushälterin des Professors, Miss Claire Bristow - auf das Miss legt sie besonders viel Wert, die ich von vielen Besuchen her kenne, die mich aber nicht mag - blickt mich mit ihrem anmaßenden Gesichtsausdruck an: „Ach, Sie sind es wieder. Der Herr Professor schläft.“
„Dann werde ich ihn wecken, Miss Bristow!“
Als ich in den großen Leseraum der Villa, wie Sir Bruce seine ansehnliche Bibliothek zu nennen pflegt, trete, steht der emeritierte Dekan, wie immer korrekt sportlich-elegant gekleidet, an einem großen Regal und blättert in einem seiner vielen Folianten. Die Geschichts-wissenschaft ist nur eine kleine Fakultät der Uni Glasgow, die immer im Schatten der Natur-wissenschaften und der Medizin stand, doch der Ruf ist nach wie vor exzellent. Schnell erkläre ich meinem Mentor die Situation. Ich spüre, wie er plötzlich voller Energie und Neugierde Näheres erfahren will.
„Hast Du die Memoiren dieses Piraten gelesen, Vivian?“
Neugierig blickt mich der alte Mann mit dem imposanten Kopf eines bärtigen Schotten aus den Highlands an. Dann sagt er schmunzelnd:
„Immer noch ein hübsches Ding, diese Miss Collins. Klug und hübsch. Das schafft Neid, mein Kind. Nicht nur Neid bei den Suffragetten, sondern auch bei den männlichen Kollegen. Erlebst Du viele Nachstellungen und Anmachen an der Uni – ich kann mir das sehr gut vorstellen . . . Also, hast Du die Texte gelesen?“
„Ja, sicher, sogar zweimal sehr intensiv und mit großer Freude – und ich habe mir sehr viele Notizen gemacht und Zitate daraus gesammelt.“
„Das ist sehr gut. Nun soll ich sie studieren, wie Du mir am Telefon erklärtest. Warum?“
„Ich will sie als Buch herausgeben, doch ich möchte sicher sein, dass sie echt sind. Es wird ja so viel kopiert, auch schon vor über 400 Jahren war das nicht anders. Besonders reizvoll finde ich die Dialoge und Begegnung mit unserem Freund Shakespeare. Und natürlich Drakes Gespräche mit der Königin. Es geht hier um Macht, Gold, Intrigen und Fortschritt. Aus der Feder des Drake klingt das sehr authentisch und demaskierend. Es zeigt aber auch, wie das Gold die damalige Welt beherrschte und veränderte, Tyrannen wachsen ließ und Adel und Klerus in die zweite Reihe verdrängten. Der Kaufmann hatte plötzlich das Sagen im Königreich. Ich finde, das ist eine höchst interessante Parallele zu heute. Noch immer regiert das Geld die Welt der Eliten - heute das Öl, das Gas, die seltene Erden - rücksichtslos und ohne Mitleid gegenüber denen, die wenig oder nichts besitzen. Wir nennen es heute globales Management, damals hieß es Freibeuterei.“
Dann zitiere ich eine Stelle aus einer Rede Königin Elisabeths, die die Zukunft Englands beschreibt - ich entdeckte sie im Archiv der Universität: „Die historische Rolle Englands in Europa gehört der Vergangenheit an. Wir werden nun weltweit agieren, als ein großes Empire, als eine große Nation, die Kolonien in der ganzen Welt besitzt. Die Vereinigten Königreiche werden die Zukunft sein, allein geboren aus eigener Stärke. In Amerika, Afrika, Australien und in Asien. Wer sollte uns jetzt noch aufhalten? Wir können uns mit den kleinstaatlichen Problemen Europas und dem ständigen Gezänk nicht mehr aufhalten. Wir denken ab sofort in anderen Dimensionen.“ Soweit die Königin. Und exakt diese Gedankenwelt schildert Drake in seinen Aufzeichnungen. Das klingt doch vor dem Hickhack des Brexit sehr aktuell, finden Sie nicht?“
„Glaubst Du denn, dass sie keine Fälschung sind? Es gibt so viele Plagiate in der Neuzeit, denke nur an den Unsinn mit den gefälschten Tagebüchern des Adolf Hitler! War das eine Pleite für den Journalismus.“
„Ich bin mir nicht ganz sicher, aber doch schon sehr nahe daran zu glauben, dass sie aus der Feder unseres Nationalhelden stammen.“
„Wie findest Du sie? Sind sie den Druck wert?“
„Nun, der Stil ist sicher aus der Zeit geboren, etwas belehrend vielleicht, aber die Aufzeichnungen sind ein erfrischendes Sittengemälde aus der Zeit der großen Elisabeth. Drake hat, wie er selbst bestätigt, am Rad der Geschichte kräftig mit gedreht. Er rettet Königin Elisabeth vor dem Bankrott, schwächt gewaltig die spanische Seemacht und macht dadurch den Weg frei für die Gründung der englischen Kolonien. Drake ist der typische Vertreter der Neuzeit, wenn nicht der beginnenden Moderne. Er gibt sich als rationaler Geistesmensch, der die überkommenen Machtstrukturen des 16. Jahrhunderts in seiner sympathischen, flotten Art einfach für überholt erklärt und die Neue Welt nach seinen Vorstellungen neu ordnet. Er war ein echter Kerl und Freibeuter am Anfang einer neuen Zeitenwende. Wenn man so will war er einer der Wegbereiter des Kapitalismus. Es ist spannend, dem Zeitzeugen Drake dabei auf die Spur zu kommen.“
„Warum soll ich sie denn ebenfalls lesen, ich traue Dir ein kompetentes Urteil zu, das wohl, aber als Buchveröffentlichung sind sie sicher ungeeignet.“
„Oh, das sicher nicht. Mich interessiert Ihre Meinung, Sir, die meines alten, verehrten Professors, dessen Nachfolgerin ich gerne geworden wäre. Doch der Rektor war anderer Meinung, da ich nach mehreren intensiven Bemühungen nicht mit ihm ins Bett gegangen bin, was ihn dann sehr plötzlich zu einer anderen Meinung über meine wissenschaftlichen Qualifikationen brachte. Aus der Traum oder Bettlaken first. Ich erlebe das tatsächlich oft, dass die männliche Elite glaubt, mit ihrem Penis die Lehrstühle erobern zu können. Was meinen Sie, Herr Professor.“
„Nun, wir waren keine Kinder von Traurigkeit und spuckten in manche Kanne, scheuten uns vor keinem Duell, aber wir waren Gentlemen, die genießen und schweigen konnten. Ein Prahlhans findet schnell keine Beute mehr. Er gilt als Schwätzer und Wichtigtuer. Der erfolgreiche Verführer muss verschwiegen sein, sein Amt beherrschen, einen guten Job machen und über exzellente Verbindungen verfügen. Das können nur wenige. Also, starten wir das Unternehmen Drake als Paar, als Herausgeber-Duo, wie ich schon vorschlug. Spittfield ist ein räudiger Wolf, eine Niete und Wichtigtuer, aber ein guter Wendehals. Wenn ich das Epos des Drake tatsächlich lese, Vivian, dann wird es die Meinung eines alten Mannes sein, der sich zurzeit mit dem Parlament wegen des Brexit anlegt. England verlässt Europa, das ist vor dem historischen Hintergrund Europas nicht mehr zu begreifen. Aber es beweist deutlich: Das Volk ist dumm. Dummheit regiert immer die Welt: früher, heute, morgen, immer und ewig. Es ist eine Tyrannei unter dem Mäntelchen einer Volksentscheidung. Vielleicht gelingt es ja wirklich, dass Schottland sich von England löst und in der EU verbleibt. Ich wäre dafür! Bei Sankt Andrew! Aber, schönes Kind, auf uns hört ja niemand.“
Читать дальше