"Sag ihm, dass ich der Doktor bin."
"Sorry, Bwana Doktor Fischer, er wird mir nicht glauben, weil er es nicht sehen kann."
"Wieso?" Fischer blickte an sich herunter. "Oh Scheiße!" murmelte er auf Deutsch. Er hatte vergessen, sich seinen Kittel anzuziehen. Langsam stand er auf und ging zu dem schmalen Wandschrank, in dem er seine Dienstkleidung verwahrte. Er nahm sich einen frischen Kittel vom Bügel und zog ihn über, ohne die Knöpfe zu schließen. Als Krönung nahm er dann sein Etui mit den elf Kugelschreibern aus der Brusttasche des alten Kittels und steckte es gut sichtbar ein.
Ehrfurcht zeichnete sich auf dem Gesicht seines Patienten ab. Dieser Mann war bestimmt ein großer Doktor! Selbst der Polizist in seinem Heimatdorf besaß nur drei Kugelschreiber - und der Bürgermeister sogar nur zwei!
Fischer kam sich, wie immer im ersten Moment, recht lächerlich vor. Die Metall- und Plastikclips zierten seine Brust, als sei er ein russischer General in Paradeuniform, aber die Wirkung blieb nicht aus. Der Alte taute zusehends auf und begann, in schnellen Worten zu erzählen. Der Helfer übersetzte:
"Er ist drei Tage lang gegangen, um hierher zu kommen. Er freut sich, Sie hier anzutreffen und wünscht Ihnen ein langes Leben. Er fragt, wie es Ihnen geht und ob auch ihre Familie wohlauf ist. Es war ein langer Weg hierher - und die Sonne war sehr heiß. - Aber seine Brüder..."
"Moment! Frag ihn, was ihm weh tut."
Die beiden Schwarzen unterhielten sich nun angeregt.
"Well", meinte der Dolmetscher schließlich. "Er ist auf eine Palme geklettert, um Früchte zu holen. Da ist er abgerutscht und auf den Boden gefallen. Dabei ist er mit dem Knöchel auf einen Stein geschlagen. Das tat sehr weh. Seitdem kann er nicht mehr richtig laufen - und jetzt ist er hierher gekommen, um sich heilen zu lassen."
Fischer ließ sich den Fuß zeigen. Schon der erste Blick zeigte ihm, dass er hier nichts mehr ausrichten konnte. Fast der ganze Fuß war bei dem Sturz zerschmettert worden, und die Brüche waren samt und sonders schief zusammengewachsen.
"Wieso kommt er erst jetzt? Und wieso klettert er in seinem Alter noch auf Palmen herum?" fragte er den Dolmetscher.
Der gab die Fragen an den Alten weiter, der wieder zu einer längeren Rede ansetzte. Als er damit fertig war, erfuhr Fischer den wahren Sachverhalt: Der Alte hatte gar nicht sofort kommen können. - Als der Unfall passierte, war er noch ein Kind gewesen.
Fischer seufzte. Da erwartete dieser arme Alte doch wirklich, dass der weiße Wunderdoktor einen mindestens 50 Jahre alten, schlecht verheilten Knochenbruch repariert. Aber die Weißen waren ja selbst schuld, wenn sie überfordert wurden. Jahrzehnte-, ja jahrhundertelang hatten sie sich als Alleskönner und Wundertäter aufgespielt. Und so was war nun die Quittung dafür.
"Hier, das ist gute Medizin!" Aus der Schreibtischschublade hatte er ein Röhrchen mit Zuckerpillen geholt und reichte es dem Alten. "Jede Woche eine Pille - und den Fuß schonen!" ließ er übersetzen. "Aber er soll nicht zu viel erwarten, die Sache braucht Zeit."
Erfreut nahm der Alte die Medizin entgegen und humpelte Danksagungen murmelnd hinaus.
"Glück gehabt, alter Junge. Für einen Feldversuch mit neuen Präparaten bist du einfach zu alt", stellte Fischer bei sich fest und ließ den nächsten Patienten hereinholen.
Zwei Geschwüre, zwei Durchfälle, drei Bilharziosen und einige andere Krankheiten später: Fischer fühlte sich total ausgelaugt. Er war kein Arzt aus Leidenschaft. Die Routine der Behandlungen, die Krankheitsgeschichten, die ewig gleichen Begrüßungsformeln machten ihn krank.
Aus Prestigegründen hatten seine Eltern darauf bestanden, dass er Medizin studierte. Eigentlich hätte er viel lieber eine künstlerische Laufbahn eingeschlagen. Aber um des Familienfriedens willen hatte er schließlich eingewilligt.
Schon bald hatte er allerdings festgestellt, dass er dem Arztberuf wirklich nicht viele positive Seiten abgewinnen konnte. Seine Schwierigkeiten mit den hierarchischen Strukturen des Ärztestandes hatten ihm schon in den ersten Semestern Unmengen von Ärger eingetragen. Dass er trotzdem seine Scheine zusammenbekam und auch ganz gut abschnitt, grenzte an ein Wunder. Immerhin ließ er keine Gelegenheit ungenutzt, sich unter der Professorenschaft Feinde zu machen.
Mitten in diesem Dilemma kam ihm seine Idee, den Fachbereich "Tropenmedizin" zu wählen, wie eine Erlösung vor. Der 22jährige Medizinstudent Martin Fischer träumte davon, eines Tages in einem hübschen kleinen Krankenhaus, in einem interessanten Land - mit netten farbigen Kollegen - nette farbige Patienten zu behandeln.
Heute, 37jährig - nach sechsjährigem, fast ununterbrochenem Einsatz in verschiedenen Ländern - wusste er, dass Entwicklungsarbeit immer bedeutete, bis über beide Ellbogen im Dreck zu wühlen. Aber das war noch nicht das Schlimmste.
Viel mehr als Hitze, Staub und Langeweile machte es ihm zu schaffen, dass er ständig gezwungen wurde, seine Patienten zu Versuchszwecken zu missbrauchen. Fast alle europäischen Pharmakonzerne unterhielten im Rahmen der Entwicklungshilfe Versuchsstationen in der Dritten Welt. Hier wurden die Medikamente getestet, die in Europa nicht an Menschen erprobt werden durften.
Wie entsetzt war er gewesen, als er bei seinem ersten Einsatz in Westafrika feststellte, dass täglich dutzende von vollständig gesunden Bergarbeitern durch die Sprechzimmer geschleust wurden, an die er neu entwickelte Beta-Blocker zu verteilen hatte. Da Beta-Blocker auch Depressionen auslösen können, hatte man dem Präparat eine gute Dosis Stimmungsaufheller beigemengt. Jeder Mann musste Urin- und Stuhlproben abgeben, Blut wurde abgenommen und Reaktionstests wurden durchgeführt. Anschließend musste jeder Arbeiter seine Pille für die Nacht unter Aufsicht einnehmen und durfte dann nach Hause gehen. Die Ehefrauen maulten zwar etwas, weil ihre Kerle nachts zu absolut nichts mehr zu gebrauchen waren, aber das war nicht weiter schlimm. Viel bedenklicher stimmte es, dass die Jungs auch am nächsten Morgen noch völlig high gewesen waren. Fröhlich lächelnd hatten sie bei der Arbeit sich selbst oder anderen - ganz aus Versehen - ein paar Finger oder sonstige Körperteile abgehackt. Eilig war nach Deutschland telegrafiert worden, und man hatte den Versuch sofort abgebrochen. Das neu entwickelte Präparat, das drei Wochen später angeliefert wurde, wirkte schon erheblich milder; musste aber noch zweimal verbessert werden, bevor es in Deutschland in den Handel kam.
Unzählige andere Tests folgten: Appetitzügler, Cortisoncremes, Kreislaufmittel, Rheumasalben und vieles andere wurde in stetem Wechsel auf Wirkung und Verträglichkeit getestet. Die Menschen, an denen diese Versuche vorgenommen wurden, hatten sich alle freiwillig gemeldet. Andererseits hätte die Yekepa Mining Company jeden gnadenlos gefeuert, der sich nicht zur Verfügung gestellt hätte. Schließlich erhielt sie von dem Pharmakonzern ein hohes Kopfgeld für jede Versuchsperson.
Brauner, Fischers damaliger Vorgesetzter, hatte in einem abendlichen, privaten Gespräch dann auch noch die letzten Illusionen zerstört, die Fischer bis dahin noch hätte haben können. Fischer, frisch aus Deutschland importiert, hatte schwere Skrupel wegen des menschenverachtenden Vorgehens seiner Firma. Beiläufig hatte er durchblicken lassen, dass er beabsichtige, einen Bericht auszuarbeiten und die Presse über die skandalösen Zustände zu informieren.
Brauner hatte ihm das allerdings ganz schnell ausgeredet. Er hatte Fischer vor Augen geführt, was passieren würde, wenn diese Klinik geschlossen werden müßte. Die einheimische Bevölkerung würde dann zwar nicht mehr als Versuchsmaterial missbraucht, aber sie würde auch sonst ohne jede medizinische Versorgung sein.
Fischer hatte das einsehen müssen, aber es hatte ihm absolut nicht gefallen. Er war zu keiner Antwort fähig gewesen. Er hatte sich knapp verabschiedet und war in sein Zimmer gegangen In dieser Nacht hatte der junge Doktor Fischer zum letzten Mal in seinem Leben geweint. Es waren Tränen der Hilflosigkeit, der Enttäuschung und der Wut gewesen.
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