Das Leid des Leidens ist das, was wir gewohnt sind »Leid« zu nennen. Es ist die gröbste, offensichtlichste Form des Leidens: wenn nichts mehr richtig funktioniert, wenn man krank ist, Freunde oder Familienangehörige sterben oder man aus anderen Gründen unangenehme Zustände und Schmerzen erlebt. Stets präzise in seinen Aussagen hat Buddha dieses Leid allerdings noch weiter aufgeschlüsselt. So beinhaltet diese Form des Leidens außerdem das Leid der Geburt, des Alterns, der Krankheit und des Sterbens; das Leid, von Geliebten getrennt zu sein, Ungeliebtem zu begegnen, Gewünschtes nicht zu erhalten und Erlangtes beschützen zu müssen.
Die zweite Form des Leids, die es nach buddhistischer Auffassung gibt, erkennen nur wenige zivilisierte Menschen als solches. Sie nennt sich »Leid angesichts von Veränderung.« Veränderung wird von einigen zwar als interessant und abwechslungsreich empfunden, treibt andere aber zur Weißglut, weil sie Angst vor Veränderungen in ihrem Leben haben und gewohnt sind nach Stabilität, Berechenbarkeit, Sicherheit und Statik zu streben. In dem Augenblick, in dem Menschen aber versuchen an materiellen Dingen, angenehmen Eindrücken, alten Gewohnheiten, menschlichen Körpern oder anderem Vergänglichen festzuhalten, ist Leid angesichts von Veränderung bereits vorprogrammiert. Denn sosehr wir es auch versuchen, wir können nichts für immer festhalten und keinen materiellen Gegenstand nach dem Tod mitnehmen. Jede Situation und jeder noch so schöne Zustand löst sich irgendwann wieder auf und letztendlich zerrinnt alles zwischen den Fingern, was man versucht festzuhalten. Menschen, die mit der Vergänglichkeit materieller Dinge nicht zurechtkommen, leiden also an einer Form des Leids, die Bewohnern der westlichen Hemisphäre besonders große Probleme bereitet, weil sie von veränderlichen Dingen andauerndes Glück erwarten. Ein Trugschluss, der sich spätestens dann aufklärt, wenn das, was sich nicht verändern sollte, plötzlich zu Bruch geht; wenn das, was so sehr ans Herz gewachsen ist, spontan verschwindet oder zerschmettert wird, wenn das, was mehr geliebt wurde als alle spirituell-immateriellen Dinge, wie Gesundheit, Nächstenliebe, Freundschaft oder Mitgefühl, einfach zerrinnt.
Leid angesichts von Veränderung wird also allgemein schon durch den Umstand gegeben, dass nichts in der Welt unvergänglich ist?
Genau. Laut buddhistischer Auffassung ist diese Form des Leids mit dem Beginn materialistischer Denkweise geboren und hört erst mit ihrem Tod wieder auf. Da viele deiner Mitmenschen aber dies und jenes besitzen wollen, sich gerne selbst im Zentrum aller Dinge sehen, Macht ausüben und nur ungern Begehrlichkeiten, Sehnsüchte, Wünsche und Träume aufgeben, sind sie von dieser Form des Leids besonders stark betroffen, ja geradezu prädestiniert dazu, ihr zu verfallen. Selbst wenn sie alles erreicht haben, was es zu erreichen gibt, bleibt ihnen am Ende doch nichts als Leere, weil sie zeit ihres Lebens nie darüber nachgedacht haben, worum es im Leben wirklich geht, dass alles Materielle vergänglich ist, und dass sie nichts von den Dingen, die sie angehäuft haben, mitnehmen können. Dass nichts auf Dauer festgehalten werden kann und ewig Bestand hat, ist zwar im Grunde eine sehr banale Tatsache, die jedem Menschen eigentlich einleuchten müsste, doch wird sie in einer Gesellschaft, in der Weisheit keinen hohen Stellenwert hat, kollektiv verdrängt.
Du meinst also, dass der moderne Mensch gelernt hat, sich mit all seinen materiellen Besitztümern zu identifizieren und versucht selbst simple Erkenntnisse wie diese aus seinem Bewusstsein zu verdrängen?
Ja. Der weise Buddha aber erinnerte die Menschen daran, Abstand von rein materiellen Wertvorstellungen zu nehmen, wenn sie Leid überwinden wollen. Eine These, die in allen Weltreligionen zuhause ist und auf die wir im Laufe unseres Gesprächs noch zurückkommen können, wenn es darum geht persönliche Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, inneren Frieden und Freiheit zu erlangen — geistige Freiheit, versteht sich. Eine Freiheit, die in einem Frei-Sein von allen Verlockungen und äußeren Zwängen besteht. (Quelle: http://www.buddhateens.org/leiden)
Die dritte Form des Leids, die der Buddhismus beschreibt, wird von den meisten Menschen nur selten entdeckt, da sie mit den beiden ersten schon so sehr beschäftigt sind, dass sie sich kaum mehr Zeit nehmen, auf die Natur des Leids näher einzugehen. Die heißt das »Leid der Bedingtheit« und meint, dass im Kreislauf der bedingten Existenz in der einen oder anderen Form immer nur Leid erfahren wird, und dass im Vergleich zu unserem wahren Wesen — der Buddhanatur — selbst die angenehmsten Zustände, die wir kennen, leidvoll sind.
Buddhisten glauben also, dass jeder leidet, der nicht erleuchtet ist?
Ja. Eine Tatsache, die auch wir uns noch verdeutlichen können, wenn wir den Spuren des Leids geduldig weiter folgen.
Das müssen wir auf jeden Fall noch eindringlicher besprechen!
Gerne. Aber nun weiter zum Thema »Leid«: Da der Begriff »Leiden« im Buddhismusgenerell viel weiter gefasst wird, als in der christlich-abendländischen Denktradition, finden wir hier noch eine weitere äußerst interessante Bezeichnung für eine Form des Leids: »Leid angesichts des Leids« nennen es die Buddhisten, wenn wir Leid empfinden, weil wir andere Menschen leiden sehen. Eine Form von Leid, die jeder von uns aus dem Alltag kennt und zu deren Entstehung uns der Dalai Lama in seinem Hörspiel »Das Herz der Liebe« erklärt: "Wir alle empfinden eine natürliche Sympathie für jemanden, der sichtlich unter einer schmerzhaften Krankheit oder dem Verlust eines ihm nahestehenden Menschen zu leiden hat."
»Leid angesichts des Leids« nennen Buddhisten also die Erfahrung, die wir gerade gemacht haben, als wir uns bewusst geworden sind, wie schlecht es dem überwiegenden Großteil der Menschheit geht und wie viele Kinder heute tagtäglich sterben, oder?
Ganz genau. »Leid angesichts des Leids« zu empfinden ist eine sehr selbstlose Erfahrung, die wir gleich noch intensivieren können, wenn wir unserem natürlichen Bedürfnis nach innerem und äußerem Frieden nachgehen. "Denn eines ist klar", so der Dalai Lama in »Das Herz der Liebe«, "wir alle haben als Menschen das natürliche Verlangen glücklich zu sein und kein Leid zu erfahren. Das ist ein Faktum. Und wir können es zu unserem Ausgangspunkt machen." (Quelle: Dalai Lama, Das Herz der Liebe, Hörspiel, Theseus, Auflage 1, 2006)
Dabei will es eigentlich keiner
Die Ansicht, dass eigentlich kein Mensch leiden und jeder glücklich sein will, findet sich nicht nur im Buddhismus. In der westlichen Philosophie findet sie unter dem Begriff des »Hedonismus« Erwähnung.
Was heißt Hedonismus?
Hedonismus, vom altgriechischen ἡδονή, hēdonḗ (= Freude, Vergnügen, Lust, Genuss, sinnliche Begierde) abgeleitet, bezeichnet eine philosophisch-ethische Strömung, deren Grundthese lautet, dass Freude und die Vermeidung von Leid jedem Menschen intrinsisch innewohnen und die höchsten Ziele menschlichen Strebens sind. Im Gegensatz zu dem philosophischen Verständnis wird im alltags-sprachlichen Gebrauch mit dem Begriff »Hedonismus« zwar häufig eine nur an momentanen Genüssen orientierte egoistische Lebens-einstellung bezeichnet und der Begriff oftmals abwertend oder gar als Zeichen der Dekadenz interpretiert, doch meint Hedonismus im eigentlichen Sinne, dasselbe wie das, was Buddhisten unter »Leid angesichts des Leids« verstehen, nämlich dass jeder Mensch sich einzig danach sehnt, Freude zu empfinden und Leid zu vermeiden.
Schaffen wir es also letztlich, einen Weg zu finden Leid zu vermeiden, können wir uns auf ein Leben in Glückseligkeit gefasst machen! Stimmt´s?
Das zumindest wird uns in der Dokumentation »Die Glücksformel von Bhutan« versprochen, wo es heißt, dass die Überwindung von Leid im Buddhismus automatisch Glück bedeutet. Ein logischer Schluss, auf den — wie du es uns gerade vorgemacht hast — aber eigentlich jeder selbstständig denkende Mensch von alleine kommen könnte, wenn er sich mal Zeit nehmen würde, über den Begriff des Leids zu kontemplieren. (Quelle: Siebter Himmel im Himalaya — Die Glücksformel von Bhutan, 3sat Dokumentation, Regie: Albert Barillé, Gilbert Barillé)
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