Sofort umfing mich die besondere, behagliche Atmosphäre des mit dezentem Luxus eingerichteten Lokals. Der Maitre führte mich mit seinem gewohnten höflichen Lächeln an reich gedeckten Tischen vorbei, die bereits besetzt waren. Köpfe hoben sich, und teils bewundernde, teils neugierige Blicke richteten sich auf mich. Die Frauen musterten mich von Kopf bis Fuß auf jene ganz spezifische, prüfende Weise, die bei den anderen nach Fehlern sucht, um die eigene Eitelkeit zu befriedigen. Doch ich kümmerte mich nicht darum.
Ich folgte dem Maitre, bis wir endlich an meinen Tisch gelangten. Alle waren schon versammelt und unterhielten sich angeregt. Es gab mir einen Stich, als ich sah, dass außer Bill auch Peter fehlte. Ich bat meine Freunde für die Verspätung um Entschuldigung, doch denen machte es offenbar überhaupt nichts aus. Lachend und scherzend umarmten sie mich und gratulierten mir zum Geburtstag. Die ersten Drinks hatten bereits das Blut und die Stimmung erwärmt. In ihren Augen spiegelte sich der Glanz der Kristallgläser wider, die mit hellem Klang aneinander stießen und sich mit bewundernswerter Geschwindigkeit leerten, wobei sie die gute Laune und die Unbeschwertheit verbreiteten, die Alkohol in reichen Mengen und ein vertrauter Freundeskreis garantieren.
Mit gutmütigen Neckereien und humorvollen Anspielungen wiesen sie mir den Platz am Kopfende des Tisches zu und übergaben mir ihre Geschenke mit der Bitte, sie in Ruhe zu Hause zu öffnen, um nicht überall das Einwickelpapier zu verstreuen. Mir war es recht. Nina, meine zypriotische Freundin, drückte mir liebevoll die Hand, während Raymond mir vom andern Ende des Tisches zurief: „Bestimmt sind die Jungs im Verkehr stecken geblieben. Die Straßen waren verstopft, kurz bevor ich gekommen bin.“
Ich wollte ihm entgegnen: Und wie hast du es geschafft, rechtzeitig hier zu sein? Doch stattdessen lächelte ich ihm verständnisvoll zu.
Eine merkwürdige Verstimmung breitete sich in meiner Magengegend aus. Ich nahm zwei Schluck Wein, um mich zu beruhigen, und warf heimliche Blicke auf die vergoldete Uhr an der Wand gegenüber. Halb neun. Wie rücksichtslos, mein Gott, wie ungezogen! Im Hintergrund läutete das Telefon. Ich starrte in die Richtung in der Hoffnung, es sei Peter, der sein baldiges Kommen ankündigte, und wartete darauf, dass mich der Kellner an den Apparat rief. Doch nichts geschah.
Der Maitre trat auf mich zu und fragte höflich, ob das Essen serviert werden solle. Es war mir unangenehm meinen Gästen gegenüber. Ich wusste nicht, wie lange Peter und Bill sich noch verspäten würden, und beschloss deshalb, mit dem Essen zu beginnen. Mir war aufgefallen, dass auch die Kellner leicht ungeduldig wurden. Die Gerichte waren im Voraus bestellt und, wie mich der Maitre informierte, nach den Vorlieben jedes Anwesenden sorgfältig ausgewählt worden.
Als die Kellner anfingen, die silbernen Platten aufzutragen, wurden sie von allen mit freudigen Ausrufen empfangen, besonders als meine Gäste sahen, dass jedem sein Leibgericht serviert wurde, kunstvoll garniert, dazu eine Fülle von Beilagen und zartem Gemüse. Alle machten sich mit sichtlichem Appetit über das Essen her; Peters Abwesenheit schien eher unbemerkt geblieben zu sein. Bei mir war das allerdings nicht der Fall. Lustlos nahm ich ab und zu einen kleinen Bissen, mehr aus Höflichkeit, und spülte mit kräftigen Schlucken Wein nach. Meine Unruhe verwandelte sich langsam in Erregung. Eine böse Ahnung hatte begonnen, mein Inneres mit hämmerndem, unregelmäßigem Herzrasen zum Beben zu bringen. Ich versuchte, das Zittern meiner Hände vor den anderen zu verbergen, indem ich mein Glas fest umklammerte. Jedes Mal, wenn ein Gast die Tür öffnete, schreckte ich auf meinem Platz hoch und wünschte, es wäre Peter. Doch meine Hoffnung wurde immer wieder enttäuscht. Ich fing Ninas Blick auf, die mir stumm bedeutete, ich solle mich beruhigen.
Viertel nach neun. Schon lange hatte ich das Gefühl, dass mein Stuhl mich einengte und wie ein Schraubstock gefangen hielt. Ich konnte das Warten nicht länger ertragen. Ich musste etwas unternehmen und dabei darauf achten, meinen Freunden möglichst wenig Anlass zu Kommentaren zu geben. So gelassen wie möglich stand ich auf, als wollte ich zur Toilette gehen, und begab mich zum rückwärtigen Teil des Lokals. Die Blicke der Restaurantbesucher, die mir auf dem Weg dorthin folgten, trugen ein Weiteres zu meiner Gereiztheit bei. Als ich dicht an einer Gesellschaft junger Leute vorbeiging, hörte ich jemanden sagen: „Hat dieses Mädchen nicht etwas Exotisches? Woher sie wohl kommt?“
Für den Bruchteil einer Sekunde überkam mich die unbändige Lust, mit ungewohnter Aggressivität zu antworten: Aus Afghanistan. Was schert es dich? Doch ich beschloss, die Bemerkung zu überhören, und setzte meinen Weg fort. Anstatt geradeaus zu gehen, wandte ich mich rasch nach links, wo, wie ich wusste, eine Telefonzelle stand, damit die Gäste in Ruhe ihre Anrufe erledigen konnten. Sie war besetzt. Ein Herr in mittleren Jahren telefonierte mit lebhaften Gesten und strich dabei immer wieder nervös mit der Hand über seinen dichten weißen Haarschopf. Mal setzte er sich auf den Hocker, dann stand er wieder auf und schüttelte abwechselnd seine Beine aus. Er machte nicht den Eindruck, als habe er mich bemerkt – und selbst wenn, ignorierte er mich demonstrativ. Seine Langatmigkeit schürte meine Wut noch mehr. Ich hätte am liebsten die Tür aufgerissen, ihn an seiner weißen Mähne gepackt und mit Fußtritten nach draußen befördert. Er jedoch fuhr ungerührt mit seinem Gespräch fort, ohne den Sturm meiner Ungeduld zu ahnen. Schließlich geruhte er, den Hörer aufzulegen und das Feld zu räumen.
Ich ging in die Zelle, schloss die Tür sorgfältig hinter mir und wählte mit zitternden Fingern die Nummer von Peters Büro. Dreimal verwählte ich mich. Innerlich fluchend, versuchte ich es aufs Neue, diesmal mit mehr Aufmerksamkeit. Ich hörte, wie es am andern Ende der Leitung läutete, immer und immer wieder.
„Irgendwer soll antworten, zum Teufel noch mal!“, murmelte ich vor mich hin. Ich war außer mir.
Nach fünfzehnmaligem Läuten hob endlich jemand den Hörer ab. Ich ließ mir bestätigen, dass es Peters Apparat war, und bat darum, ihn zu rufen. Der Unbekannte informierte mich, dass um diese Zeit alle schon fort seien, und fügte hinzu, dass Peter an jenem Tag gar nicht im Büro gewesen sei. Wie vom Donner gerührt, fragte ich nach Bill und erfuhr, dass auch Bill nicht im Dienst erschienen war. Schnell legte ich auf und versuchte nachzudenken. Panik begann, meinen Verstand zu blockieren und meine Denkfähigkeit zu trüben.
“Wie blöd ich bin”, murmelte ich vor mich hin, “natürlich hätte ich erst zu Hause anrufen müssen.”
Bill und Peter wohnten zusammen in einer Dienstwohnung in Hamstead. Mit wieder belebter Hoffnung rief ich die Nummer an und wartete. Ein-, zwei-, drei-, zehn-, zwanzigmal läutete das Telefon. Ich dachte, ich hätte vielleicht einen Fehler gemacht, und wählte noch einmal, indem ich die Zahlen einzeln vor mich hin sagte. Jedes unbeantwortete Läuten erschien mir plötzlich wie eine Welle, die zurückschwappte und über mir zusammenschlug. Die verrücktesten Bilder – von Unfällen, Krankenhäusern und anderen schmerzlichen Situationen – belagerten meinen Verstand mit zunehmender Intensität und hämmerten schonungslos auf meine Phantasie ein, bis sie zum Höhepunkt gelangten und sich in einem inneren Schrei entluden, der unsägliches Leid und unendliche Seelenqual in sich barg. Wie Schlangen glitten die Bilder unbarmherzig durch die Stille der Zelle und besudelten die Klarheit meines Verstandes. Mein Kopf leerte sich. Es gab nur noch ein Vakuum, das nicht denken, keinen Beschluss über meine nächsten Schritte fassen konnte. Ich hörte ein Murmeln über meine Lippen kommen, als wären es Worte einer anderen Person. Waren es Flüche, waren es Anklagen, war es Verzweiflung? Meine Augen brannten, und eine einzelne Träne bahnte sich ihren Weg durch mein sorgfältiges Make-up. Schnell wischte ich sie ab.
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