Ihr aktueller Auftrag bestand darin, alle bekannten Anwender von Seltenen Erden in ihrem Marktgebiet zu interviewen und deren direkten Bedarf sowie den der entsprechenden Kundschaft zu erforschen. Dazu gehörte auch die Ermittlung von Recyclingaktivitäten. Dieser Bereich war erst seit kurzer Zeit Bestandteil ihrer Aufgaben, weil dieser Teilmarkt spürbare Wachstumsraten aufwies. Bei diesen Kundenkontakten übermittelte sie die jeweiligen Lieferkonditionen. So wie bei Steig.
Heute schrieb sie den Bericht über die Steig AG. Zuvor hatte sie die Firma Ebon AG, einen international tätigen Chemiekonzern, der zahlreiche moderne Digitalgeräte im Einsatz hatte, besucht. Überall wurden dort hochwertige Rohstoffe aus dem Bereich der Seltenen Erden verarbeitet. Dieser Konzern hatte eine eigene Recyclingfirma ins Leben gerufen. Die beschäftigte sich im Schwerpunkt mit der Entsorgung Technischer Geräte.
Hier in Hannover hatte Li Mei vor langer Zeit das Vertrauen und die Zuneigung des Inhabers der Steig AG gewonnen. Sie erinnerte sich gerne an eine Reihe von Begegnungen mit ihm in diesem Turmzimmer. Sie ahnte, dass Steig an diesem Abend noch zu ihr kommen würde, auch wenn sie ihm die Veränderung der Einkaufskonditionen hatte mitteilen müssen. Er war sehr freundlich und hatte bisher keine Fragen nach ihrem beruflichen Umfeld gestellt. Das machte ihn sympathisch.
Sie drückte auf „Senden“. Ihr Bericht war fertig. Sie dachte, ein stilles Wasser genießend, über die Bedeutung ihres Vertragsverhältnisses nach: Es hat schon etwas Zwanghaftes. Es lebt von einer einseitigen Machtstruktur. Es muss Kollegen geben, die für die Überwachung der Interviewer eingesetzt werden. Das würde bedeuten, dass sie auch in den Märkten unterwegs sein müssen, also auch hier. Es könnte also sein, ist sogar sehr wahrscheinlich, dass es Kontrolleure gibt, die die Interviewer unerkannt überwachen. Die alleinige Überprüfung der elektronischen Mitteilungen über das Internet wäre zu unsicher. Das ist ein ausgeklügeltes System. Daran kann ich selbst nichts ändern.
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Sie öffnete und ließ sich von Steig in die Arme nehmen.
Vor einem nahe gelegenen kleinen Hotel parkte ein roter Panda. Der Fahrer, ein kleiner sportlicher Mann, nahm gesundheitsbewusst eine eiweißhaltige Nahrung im Restaurant des Hotels zu sich. Nach dem Essen zog er sich in sein Zimmer zurück und beantwortete einen Anruf auf seinem Mobiltelefon.
„Sicherlich, Herr Professor, ich habe Verständnis dafür, dass ich jetzt in diesem Hotel untergebracht bin. Die anstehenden Aufgaben habe ich alle gelöst und berichtet.“
„Ich freue mich, Jim, dass Sie das einsehen. Wir bleiben dann über den üblichen Informationsweg in Kontakt.“
„Verstanden, Herr Professor.“
Seit Beginn seiner Tätigkeit bei der Steig AG wohnte Jens in Hannover. Es war eine kleine Wohnung, die er drei Monate nach Beginn seines Arbeitsvertrages mit der Steig AG bezogen hatte. Zuvor hatte er ein Zimmer des Hotels Am Stadtpark bewohnt. Die Firma hatte ihm damals natürlich zugesichert, bei der Wohnungssuche behilflich zu sein. Schließlich hatte er im List, einem Stadtteil von Hannover, die jetzige Wohnung gefunden. Die Vermieterin, eine junge verwitwete Frau, Tanja Wieland, war recht sympathisch und hatte ihm das Gefühl vermittelt, dass sie ihn wertschätzte. Sie war nicht nur seine Vermieterin, sondern auch Geschäftsführerin einer Drogerie. Die hieß Drosan .
Nach dem vertraulichen Gespräch mit seinem Chef hatte Jens den Eindruck, dass er nun langfristig im Unternehmen weiter arbeiten können würde. Er hatte augenscheinlich das nachhaltige Vertrauen seines Chefs gewonnen. Seine Gedanken galten dem vergangenen Tag. Er blickte zurück. Steig hat mich gebeten, quasi einen Kollegen zu überwachen.
Das beschäftigte Jens an diesem Abend besonders. Er lag rücklings auf der Bettdecke und ließ sich das Gespräch mit Steig erneut durch den Kopf gehen. Er hatte drei Aufträge erhalten, die ihn stark fordern würden. Nach einer Dusche beschäftigte er sich mit den Unterlagen von Doering und Kuszynski. Im Radio, das neben ihm stand, gab es gerade einen Bericht über Aufstände in Nordafrika und allgemein über die Problematik der weltweiten Migrationen. Natürlich auch die Finanzkrise. Diese betraf aber nicht die armen Länder. Nabelschau über vergangenes Versagen. Politik oder Schuldentherapie.
Erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit so ein Sender wieder zu flotter Musik übergeht, dachte er und blätterte weiter in seinen Unterlagen. Mitten in seine Gedanken lenkte ihn das Telefon ab.
„Guten Abend, Herr Jens, entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie nach Feierabend noch störe, Wieland hier.“
„Guten Abend, Frau Wieland. Brennt irgendetwas?“
„Nein, nein, so schlimm ist es nicht. Ich habe eine kleine Überraschung für Sie. Erinnern Sie sich an dieses Weinangebot, über das wir vor wenigen Tagen gesprochen haben, als diese Winzerwerbung ins Haus kam?“
„Stimmt, das war ein sehr interessantes Angebot.“
„Also, ich habe einfach etwas bestellt. Heute ist es geliefert worden. Ich würde den Wein gerne mit Ihnen probieren. Hätten Sie Zeit und Lust?“
Jens zögerte nicht lange. Eine Ablenkung von den Unterlagen kam ihm sehr entgegen. Er nahm die Einladung zur Weinverkostung an und überlegte, was er als Gastgeschenk mitnehmen könnte. Er nahm ein kleines Buch über Humor aus seinem Bücherregal, schaute sich in dem großen Spiegel im Schlafzimmer an, zupfte an seiner Kleidung und besuchte seine Vermieterin. Sie wohnte im Erdgeschoss des gleichen Hauses.
Tanja Wieland war als Erbin des Gebäudes die alleinige Besitzerin. Sie empfing Jens freundlich mit einem verschmitzten Lächeln. Er freute sich über ihr strahlendes Gesicht. Erneut fielen ihm die Grübchen in ihren Wangen auf. Das dunkelblonde Haar fiel in leichten Wellen bis auf ihre Schultern. Sie trug praktische Kleidung, Jeans und eine großzügig geschnittene helle Bluse. Ihre Füße waren nackt.
„Schauen Sie. Der Wein ist heute tatsächlich angekommen. Der Winzer liefert nur in ziemlich langen Abständen, wahrscheinlich auch, damit sich die Mengen wegen der Transportkosten lohnen. Willkommen, Herr Jens.“
„Vielen Dank für die spontane Einladung, Frau Wieland. Ich habe Ihnen eine Kleinigkeit mitgebracht. Ach, da stehen ja die Weinflaschen!“
Im Flur sah er vier Kisten. Sie nahm ihm das dargebotene Buch ab.
„Ich habe von dem Weißen schon etwas kühl gestellt. Den sollten wir zuerst probieren. Vielleicht gefällt er Ihnen ja.“
„Bei Gefallen würde ich schon gerne zugreifen. Die Empfehlung war ja schließlich von ihrem Lieblingsgastwirt vom Gasthof Kanapee bestätigt worden.“
„Das stimmt. Also frisch zur Tat! Hier sind die Gläser. Ich nehme eine Flasche aus dem Kühlschrank in den Kühler. Füllen Sie die Gläser?“
„Gerne.“
Jens nahm die Flasche aus dem Kühler und schenkte ein.
„Sie haben ja noch gar nicht gekostet.“
„Leichter Fehler, aber ich habe Vertrauen in die Empfehlung. Darf ich das Glas auf Ihr Wohl erheben?“
„Das ist das Wichtigste.“
Sie nippten, nippten noch einmal und nahmen je einen Schluck.
„Überzeugt!“, meinte Frau Wieland.
„Schließe mich an.“, ergänzte Jens.
Sie setzten sich erst jetzt an den Tisch.
„Sie sind jetzt ja schon über drei Jahre hier in Hannover. Haben Sie sich gut eingelebt?“
„Doch, es gefällt mir ganz gut hier. Als Manager muss man ja heutzutage mobil und flexibel sein. Außerdem habe ich in der Firma ein spannendes Arbeitsfeld gefunden, was sich für mich noch attraktiver gestaltet, als ich anfänglich gedacht hatte.“
„Gibt es Neuigkeiten?“, wollte Wieland wissen.
Jens hob sein Glas und lächelte.
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