„Danke, ich werde es studieren.“ bedankte sich Jens und ging zu seinem Büro zurück.
Maria Fels konnte sich nicht vorstellen, dass ein gesunder Mann, der gerade etwa vierzig Jahre alt war, einfach so zwischen ein paar Müllcontainern zusammenbrechen würde. Inzwischen war ein Artikel über diesen Leichenfund in den Lokalnachrichten der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung erschienen. Dort tauchten kritische Fragen über bisher ungeklärte Zusammenhänge auf. Fels gefiel der Artikel nicht. Sie wollte sich selbst ein Bild von dem Tatort machen und verabredete ein Gespräch mit der Filialleiterin in Alfeld.
„Das war für mich furchtbar aufregend. Man muss ja heute mit allem Möglichen rechnen. Aber ein Toter zwischen den Containern! In diesem kleinen Ort!“
„Meine Frage wird Ihnen aus Kriminalfilmen im Fernsehen bekannt sein. Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, was gerade an diesem Tag anders war als sonst?“
„Es ist bestimmt nicht wichtig, aber es gab doch etwas Ungewöhnliches. Da war ein kleines Auto, das in der Nähe, also auf der anderen Straßenseite vor dem Busch hielt. Kein Auto aus unserem Ort, also bestimmt nicht von meinen Kunden, die kenne ich ja fast alle. Das Auto stand noch nie da. Es war rot. Ich glaube ein alter Panda.“
„Haben Sie einen Fahrer oder eine Fahrerin gesehen?“
„Also ich habe ja nicht die ganze Zeit auf die Straße oder den Hof geschaut. Aber irgendwann, bei der Überprüfung der Regale, sah ich Schatten beim Blick zum Hof. Dort kann man auch parken. Da sind keine normalen Fenster in der Wand, sondern feste Milchglasscheiben. Da kann man überhaupt nur Schatten erkennen. Da waren Schatten von Menschen. Da sieht man natürlich keine Gesichter. Einer war klein. Und dünn. Der andere normal, nicht dick. Es waren mit Sicherheit keine von der Müllabfuhr. Die sind kräftiger.“
„Hat das lange gedauert?“
„Also ich habe morgens immer viel zu tun. Aber es gab noch Leute in der Frühe auf dem Hof. Gedauert? Weiß ich nicht.“
Maria Fels bedankte sich.
„Es war aber am Vormittag“?
„Jaja. Wollen Sie noch einkaufen?“
„Gute Idee. Wenn ich schon einmal hier bin. Eine Frage habe ich im Moment noch: Gibt es draußen eine Videoüberwachung?“
„Nein so etwas haben wir hier nicht.“
„Danke.“
Fels nahm einen Korb und ging langsam durch die Ladenreihen.
Walter Doering, Leiter Technik, Forschung und Entwicklung sowie Konstruktion war ein Fuchs in der Branche. Jens traf ihn wie verabredet in seinem Büro. Neben Doerings Schreibtisch und einer Sitzgruppe gab es noch einen Planungstisch. Auf dem lagen Stapel von Zeichnungen und Ordnern. In einer Ecke des Raumes entdeckte Jens einen Safe älteren Datums neben einem Aktenregal. Doering trug ein blau gestreiftes Hemd. Der obere Knopf war geöffnet. Eine Krawatte trug er dazu nicht. Er erhob sich nur halb von seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch, streckte ihm seine Hand locker entgegen und begrüßte Jens:
„Tolle Zeiten kommen auf uns zu. Widmen wir uns der Zukunft!“
„Wer etwas Neues schaffen will, muss etwas Altes zurücklassen oder gar zerstören.“
„Das habe ich auch irgendwo gelesen, aber es ist etwas dran an diesem Spruch. Was können wir zusammen tun?“
„Herr Steig hat ja bekannt gegeben, dass wir kundenseitig neben dem medizinischen Bereich den der Chemie- und Pharmaindustrie zu betreuen haben. Wegen des hohen Bestandes an digitalen Geräten hat sich dort ein neuer Schwerpunkt ergeben. Der liegt in der Entsorgung veralteter Geräte. Das ist ein neuer wachsender Markt. Dort wird die Kontrolle der entsorgten Materialien eine immer größere Bedeutung haben. Unsere Geräte können dort einen wichtigen Beitrag leisten.
Sie haben ja bereits im Feldversuch Geräte aus der Null-Serie bei Kunden installiert. Mich würde interessieren, was Sie bis jetzt an Erfahrungen gesammelt haben.“
Doering genoss es, gefragt zu werden. Er legte die Fingerkuppen seiner beiden Hände aufeinander.
„Bevor Sie oder wir uns hier der Idee hingeben, dass wir mit unseren Sensoren und Geräten den Medizinern und deren Patienten helfen, müssen wir Folgendes vergegenwärtigen:
Kliniken sind auch Unternehmen, keine sozialen Einrichtungen. Sie suchen ständig nach Möglichkeiten zur Kostensenkung. Mit unseren Geräten können sie erreichen, dass einige Diagnosen automatisch auf der Basis von Blutanalysen erstellt werden. Das erspart langwierige Laborarbeiten.“
Doering lächelte wissend in sich hinein.
„Die Palette der Analysemöglichkeiten unserer Geräte deckt den Bedarf meiner Zielgruppen breit ab. Die Genauigkeit der benötigten Messungen kann feinstens justiert werden. Besser als bisher. Über die in den Messgeräten integrierte Spektralanalyse werden die einzelnen Substanzen eindeutig identifiziert und in einer übersichtlichen Darstellung ausgegeben. Damit können natürlich automatisch Diagnosen erstellt werden. Die bisherigen Ergebnisse aus den Feldversuchen sind sehr zufriedenstellend und bilden die Voraussetzung für das zukünftige Marketing. Es gibt auf dem Markt nichts Besseres.“
Doerings Hände arbeiteten wie eine Pumpe, indem die Fingerkuppen immer noch zusammen waren und die Handflächen rhythmisch gegeneinander gedrückt wurden. Jens dachte spontan an die Bewegungen von Quallen. Doering blickte immer wieder nach unten. Quasi unter sich. Jens konnte keinen direkten Augenkontakt finden. Doering sah Jens nicht in die Augen. Er berichtete weiter über die Leistungsfähigkeit der Geräte im Feldtest und wies darauf hin, dass hier ein riesiges Marktpotenzial zu erobern sei. Er pumpte weiter Luft mit seinen Händen. Während seiner weiteren Erklärungen wurde Jens über die Lautsprecheranlage angerufen. Es hallte. Lautsprecheranlagen sind kalt, metallen und fühlen sich grau an. Jens fröstelte unter dem unpersönlichen Klang. Er konnte sich daran einfach nicht gewöhnen.
„Herr Jens, bitte zu Herrn Steig, Herr Jens, bitte dringend zu Herrn Steig.“
Lautsprecher haben keine Augen. Jens fühlte sich durch die Lautsprecher beobachtet.
Steig hielt den Telefonhörer noch am Ohr, als Jens in sein Büro kam.
„Ja, selbstverständlich kümmere ich mich persönlich um diese Angelegenheit, Herr Direktor. Natürlich, Herr Direktor!“
„Soll ich draußen warten, Herr Steig?“
Steig legte auf.
„Nein bleiben Sie bitte unbedingt hier. Ich brauche Sie jetzt. Das Gespräch mit diesem Direktor war nicht gerade erfreulich. Nehmen Sie doch Platz. Ich habe ein paar Dinge mit Ihnen zu besprechen. Zunächst: Ich habe veranlasst, dass die besprochene Presseinformation über die neue Produktgeneration an die Marketingagentur ADCONSULT für Europa herausgegeben wurde. Ich rechne mit einer lebhaften Reaktion. Daher bitte ich Sie, sich um den Rücklauf zu kümmern. Sie werden mir darüber berichten. Darüber hinaus will ich Sie jetzt über ein von mir gestartetes Geschäft informieren. Sie kennen doch sicherlich die McCartinson Corporation aus Hartfort, Connecticut?"
Er wartete nicht auf eine Antwort.
„Paul McCartinson, der Inhaber, ist mittlerweile ein guter Freund von mir. Wir haben uns vor vier Jahren auf einer Fachmesse kennen gelernt. Der verträgt vielleicht einen Stiefel Whisky, kann ich Ihnen sagen. Da gibt es eine nette Geschichte, die ich Ihnen lieber später erzählen werde. Jetzt aber gibt es Wichtigeres.“
Steig lehnte sich genüsslich in seinem Sessel zurück und holte mit seinen Armen seitlich aus, fuhr mit seinen Händen über seinem Kopf durch die Luft hoch und stützte zuletzt seinen Hinterkopf mit seinen Händen.
„Seine Firma benötigt eine große Menge Messgeräte und Sensoren für den amerikanischen Markt. In der Medizin und vielleicht auch noch anderswo. Wir haben schon lange darüber verhandelt. In diesen Tagen hat er mich darüber informiert, dass wir als Hauptlieferant infrage kommen. Er ist sogar noch etwas weiter gegangen und hat sich ein Bild über die Versorgungslage mit Seltenen Erden, die für unsere Produktion benötigt werden, gemacht und selbst einen Vertrag ausgehandelt, um an einer Lagerstätte von Seltenen Erden direkt beteiligt zu sein. An diesem Vertrag haben wir, also unsere Firma, einen Anteil, weil wir mittelbar auch Vertragspartner sind. Will sagen, wir werden einen direkten Zugriff zu den Seltenen Erden haben.“
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