Ich hielt einen Moment inne und versuchte in mich hinein zu spüren. Ich war ich und doch war ich anders, doch es fühlte sich alles richtig an. Mein T-Shirt, das ich getragen hatte, war verschwunden, ein langes Kleid umhüllte fließend meinen Körper, es trug die Farbe des Meeres soweit ich das im Feuerschein erkennen konnte. Vorsichtig näherte ich mich nun weiter dem Jungen und kniete mich zu ihm. Sofort umhüllte mich ein metallischer Geruch. Prüfend sah ich ihn an, er musste ungefähr fünf oder sechs Jahre alt sein, seine schwarzen Haare standen wirr vom Kopf ab, einige Blätter und Äste hatten sich darin verfangen. Als mein Blick zu seinem Gesicht wanderte erstarrte ich. Sein vermutlich zauberhaftes Antlitz war mit blutigen Schrammen und Kratzern überseht. Ein langer, tiefer Schnitt zog sich über seine linke Wange. Die Wunden konnten noch nicht alt sein. Sie überzogen das runde Gesicht des kleinen Jungen mit roten Tränen aus Blut. Angstvoll blickte er mich an, dann streckte er vorsichtig seine Hand nach mir aus und ich half ihm auf die Beine. Er zitterte schrecklich und seine Hand, mit der er sich an mir festhielt wurde immer schwächer. Ein paar Schritte noch, dann hatten wir es geschafft und das Feuer würde ihn wärmen, denn jenseits der Flammen war es kalt. Bei jedem Schritt kämpfte sich ein leises Wimmern über seine Lippen. Wenige Schritte bevor wir das Feuer erreichten, sackte er plötzlich und ohne Vorwarnung in sich zusammen, und ich konnte ihn gerade noch auffangen. Mit letzter Kraft trug ich den kleinen Jungen ans Feuer und legte ihn sanft auf ein Polster aus Moos. Meine Hände und mein Kleid waren blutverschmiert. Ich versuchte ihn zu wecken, doch seine Augen blieben geschlossen. Sein Brustkorb aber hob und senkte sich regelmäßig, das beruhigte mich etwas. Ich blickte mich hilfesuchend um, ich brauchte ein Tuch und eine Schale um seine Wunden zu versorgen Mit gerunzelter Stirn blickte ich mich um. Wo waren wir hier eigentlich? Den Kopf legte ich in den Nacken um nach oben blicken zu können. Die riesigen alten Bäume verdeckten mit ihren weit ausladenden Ästen den Himmel. Es war finster, und ich konnte mich an nichts orientieren. Ich entfernte mich ein paar Schritte von dem Jungen und suchte meine Umgebung weiter nach Hilfe ab. Der Boden war mit Laub bedeckt und sein modriger Geruch mischte sich mit dem metallischen Geruch des verletzten Jungen. Die Dunkelheit außerhalb des Feuerscheins schien undurchdringlich und endgültig zu sein. Ich drehte mich einmal herum und versuchte etwas zu erkennen, doch ich sah nichts als Dunkelheit. Verzweifelt überlegte ich wie ich dem Jungen helfen konnte, wenn ich nicht einmal wusste wo wir waren. Ich kehrte zu ihm zurück und setzte mich neben ihn. Das Gefühl der Verzweiflung schien mich zu überwältigen, wie ein Schatten kam es immer näher, es wartete nur auf einen Moment der Schwäche um mich in den bodenlosen Abgrund vor mir zu stoßen, es war aussichtslos. Ich spürte, der Junge wurde von Minute zu Minute schwächer, und bald würde er seinen letzten Atemzug tun. Ein leises Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Überrascht stellte ich fest, dass ich so in meinen düsteren Gefühlen versunken war, und nicht bemerkt hatte, dass der Junge sich Schutz suchend in meinen Schoß gekuschelt hatte. Seine dunkelbraunen Augen waren ein wenig geöffnet, und er blickte mich seltsam verklärt an. Seine Augen verloren plötzlich einfach so die Farbe. Statt braune Augen blickten mich nun plötzlich starre, graue Augen an. Hilflose Tränen rannen über seine Wangen. Verzweifelt drückte ich den Jungen fest an mich. Tief in mir spürte ich plötzlich eine unendliche Wut, irgendjemand hatte den kleinen Jungen so zugerichtet und ihn zum Sterben hier abgelegt. Wie konnte man nur so etwas tun. Er war doch noch ganz klein und so hilflos. Ich wollte nichts mehr, als diesen Jungen zurück ins Leben zu schicken. Etwas an ihm war besonders, das spürte ich ganz genau, er hatte dieses Schicksal nicht verdient. Fieberhaft überlegte ich, was ich für ihn tun konnte. Nach einigen Minuten war ich verzweifelter als je zuvor, ich wünschte, ich könnte mein Leben gegen seines tauschen, er hatte ein Recht darauf die Welt zu sehen. Tränen der Trauer und Tränen der Verzweiflung füllten meine Augen. Ich hielt den Jungen nun in meinen Armen fest, und wiegte ihn hin und her. Ich spürte wie auch die letzte Kraft nun langsam aus ihm wich. Ich konnte meine Tränen nicht mehr kontrollieren, ich konnte sie auch nicht wegwischen, denn ich wollte den Jungen nicht loslassen, nicht einmal für eine Sekunde. Wenn er schon sterben musste, dann sollte er wenigstens nicht alleine sterben. Ich fühlte mich für ihn verantwortlich. Meine Tränen tropften auf sein verwundetes Gesicht, tief in mir empfand ich einen unerträglichen Schmerz, der Junge war mir doch anvertraut, er durfte jetzt nicht sterben. Ich schloss meine Augen und begann leise ein altes Kinderlied zu singen, dessen Text und Melodie plötzlich in meinen Gedanken war, auch wenn ich es zuvor nicht gekannt hatte, war es plötzlich da. Ich wiegte den kleinen Jungen hin und her. Ein bedrohliches Donnern erfüllte mit einem Mal die Stille des Waldes. Ruckartig setzte sich der Junge auf und drehte sich zu mir. Er blickte mich an und die Farbe seiner Augen änderte sich plötzlich von Grau zu Blau. Das war verrückt. Ich hatte das Gefühl in meine eigenen Augen zu blicken. Doch so plötzlich wie die Augen sich verändert hatten waren sie jetzt wieder braun. Hinter meinen eigenen Augen spürte ich plötzlich einen schmerzhaften Druck, ein züngelndes Brennen wie das von Feuer erfüllte mich und ließ mich vor Schmerz zusammenzucken. Mit einem Wimmern versuchte ich, meine schweren Augenlieder weiter anzuheben. Sie wollten sich einfach schließen, fühlten sich an als würden sie eine Tonne wiegen. Mit Mühe und eiserner Willenskraft schaffte ich es schließlich meine Augen wieder zu öffnen. Nur unscharf nahm ich alles um mich herum wahr. Aber der Schmerz war unerträglich geworden. Tränen erfüllten erneut meine Augen. In mir drängte das Verlangen, den Schmerz einfach rauszuschreien, und gerade als ich den Mund öffnen wollte, sackte ich in mich zusammen, als ob die Kraft plötzlich nachgelassen hatte. Der Schmerz war verschwunden, genauso plötzlich wie er gekommen war. Ich richtete mich wieder auf und konnte meine Umgebung wieder besser wahrnehmen, langsam nahmen die unscharfen Konturen wieder Formen an. Das Feuer war erloschen, und der kleine Junge lag zusammengesunken in meinem Schoß, er rührte sich nicht mehr, doch das gleichmäßige Heben und Senken seines Brustkorbs verriet mir, dass er noch lebte. Meine Augen gewöhnten sich gerade an die Dunkelheit, als ich kleine gelbe Lichter entdeckte, die im ganzen Wald plötzlich vom Boden aufstiegen. Ihr Leuchten tauchte die Bäume und alles rund herum in ein sanftes, magisches Licht. Ich konnte Konturen von Ästen und Bäumen besser erkennen und auch die weitere Umgebung um mich herum wurde schemenhaft sichtbar. Ich entdeckte einen See unweit von dem Platz wo der Junge und ich saßen. Ein sanfter Nebel stieg von dort auf und breitete seine kühlen, feuchten Arme wie einen Teppich über den ganzen Waldboden aus. Gebannt beobachtete ich dieses einzigartige Naturschauspiel des Waldes. Eine innere Harmonie erfüllte erst mein Herz und dann meinen ganzen Körper. Ich lauschte den Geräuschen des Waldes. Ein sanftes plätschern untermalte die lieblichen Gesänge der Vögel und das Zirpen der Zikaden. Der Wald hatte sich verändert. Irgendwie war er lebendiger geworden. Die Lage hatte sich entspannt, der Junge atmete ruhig und gleichmäßig. Ich genoss dieses Gefühl der sich ausbreitenden Harmonie und Eintracht für einen Augenblick und schloss die Augen. Ich konnte alles spüren. Meine Wahrnehmung reichte weit über das Sichtbare hinaus. Ich spürte meine Umgebung, und ich spürte den Jungen, seine Energie die noch nicht ganz gewichen war.
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