1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Nachdem er seiner Frau angekündigt hatte, dass es später werden könnte, hatte er noch eine Stunde mit dem Versuch zugebracht, eine Struktur innerhalb der Daten zu finden, dann war er vom vielen Klicken, Navigieren, Öffnen, Schließen und auf den Monitor Starren so genervt gewesen, dass er sich drei Laserdrucker organisiert und den Techniker gebeten hatte, sie an seinen Büro-PC anzuschließen. Er hatte sich einen Ordner auf seinem Desktop angelegt und damit begonnen, relevante Bild- und Textdokumente dorthin zu kopieren und von dort an den Laserdrucker zu senden. Im Gegensatz zu seinem Sohn war er ziemlicher Computer-Laie, erfahren genug, um Office, Mailprogramm, Internet und Suchfunktion bedienen zu können, aber trotz allem eher ein Freund analoger Technik. In seinem Büroschrank lag noch immer die gute, alte Adler Schreibmaschine, mit der er sich seit je her wohler gefühlt hatte als mit einer modernen PC-Tastatur. Anders als seine Kollegin beim BKA hatte er das Suchprogramm, welches auf der Festplate war, nicht entdeckt und bislang nur über die Suchfunktion des Windows Explorers nach Schlagwörtern gesucht. Da sämtliche Dateinamen aus scheinbar sinnlosen Zeichenkombinationen bestanden, bestanden seine Trefferlisten aus Treffern, welche innerhalb der Dateien gefunden worden waren. Er hatte zunächst die Suchbegriffe „Kiel“, „Schleswig“ und „Holstein“ eingegeben, und hunderttausende Textdokumente gefunden, in welche eines dieser Stichworte enthalten war: Emails, Word-Dokumente, eingescannte und in Text umgewandelte Briefe. Das war für den Anfang genug, um die drei Laserdrucker die Nacht über zu beschäftigen. Da die Drucker nur ca. 400 Blatt fassen konnten, würde nach gut 1.000 Seiten Schluss sein, Johannsen schätzte, dass er damit weniger als 0,1% der bislang im Druck-Ordner befindlichen Daten ausgedruckt hätte. Es würde immerhin reichen, ihn den Dienstagvormittag über zu beschäftigen, während die Drucker weitere Dokumente drucken würden. Sicherheitshalber hatte er sich vom Techniker sechs Extrapatronen Toner geben lassen, allerdings würde er für den Austausch der Kassetten wohl wieder auf dessen Hilfe zurückgreifen müssen.
Er hatte die drei Druckaufträge gestartet und dann sein Büro abgeschlossen, nachdem er die Festplatte wieder in seinem Safe verwahrt hatte. Jetzt saß er in seinem Auto und schaltete die Zündung aus. Er hatte keine Ahnung, wie er nach hause gekommen war, seine Gedanken waren voll und ganz bei seiner nachmittäglichen Beschäftigung gewesen, sein Unterbewusstsein hatte mal wieder volle Arbeit geleistet, ihn sicher in seine Garage zu manövrieren.
Als Martin Johannsen die Haustür aufschloss, wurde er von der lauten Stimme seiner Tochter empfangen, die aus dem Obergeschoss rief:
„Ihr seid echt total krank, ich fass das einfach nicht!“
Im Flur begegnete er seiner Frau, die sichtlich genervt einen Müllsack zur Tür trug.
„Du kommst gerade recht, Deine Tochter hat mal wieder ihre fünf Minuten...“
In solchen Momenten hatte er das Gefühl, dass ein Arbeitstag im Büro zu lange war, um mit den innerfamiliären Entwicklungen Schritt halten zu können. Er hatte keine Ahnung, worum es ging oder warum seine Tochter ihn und seine Frau als krank bezeichnete. Sein Kollege Leitner hatte kürzlich gemeint, das sei in diesem Alter normal, aber für Johannsen schien es durchaus nicht normal, wenn seine Tochter sich ihren Eltern gegenüber so respektlos verhielt. Vielleicht war das ein Zeichen, dass er zu altmodisch war. Für ihn gehörte es sich, dass man sich gegenseitig die Tür aufhielt, in den Mantel half oder „Gesundheit“ sagte, wenn jemand niesen musste. Er hatte in seinen wilden Jahren einige Male eine Tracht Prügel einstecken müssen, als er sich seinem Vater gegenüber respektlos verhalten hatte. Er war dadurch nicht zu einem gewalttätigen Menschen geworden, sondern war dankbar, seine Lektion gelehrt bekommen zu haben. Da seine Frau körperliche Erziehung nicht duldete, hatte er bei seinen eigenen Kindern versucht, sie durch vorbildhaftes Verhalten und gutes Zureden zu respektvollen Menschen heranwachsen zu lassen, doch das war ihm bereits bei seinem älteren Sohn Jürgen nur bedingt gelungen, bei Julia schien diese Taktik vollkommen ins Leere zu laufen.
„Was ist denn los?“, fragte er, während er seiner Frau in die Küche folgte.
„Julia will ihr eigenes Pferd und kann kein „nein“ akzeptieren. Es gibt noch ein paar Nudeln, soll ich sie dir in die Mikrowelle schieben?“
Er war immer wieder erstaunt, wie seine Frau innerhalb eines Satzes das Thema wechseln konnte, ohne auch nur Luft geholt zu haben. Er blickte auf den Teller mit Nudeln und Käsesoße, den sie aus dem Kühlschrank geholt hatte und fragte: „Wie kommt sie denn auf einmal darauf, ein eigenes Pferd haben zu wollen?“
„Martin, das geht doch schon seit Monaten so. Heute hat Ingrid im Stall wohl erzählt, dass sie ihr Pferd verkaufen will...“
„Warum das denn?“, fiel er seiner Frau ins Wort. Ingrid war eine Bekannte aus dem Reitstall, soviel wusste er immerhin. Dass es Frauen gab, die sich freiwillig von ihrem Pferd trennen würden, war nach den Erfahrungen, die er bislang mit dem Thema gemacht hatte, erstaunlich.
„Sie zieht nach Hamburg und will ihr Pferd nicht mitnehmen. Frag mich nicht, ich stecke da auch nicht drin.“
Sie schob den Nudelteller in die Mikrowelle, ohne nochmals nachzufragen.
„Jedenfalls hat sie Julia gefragt, ob sie das Pferd kaufen will, und die ist natürlich jetzt Feuer und Flamme.“
„Wenn sie ihr eigenes Geld verdient, kann sie damit machen, was sie will. Bis dahin wird sie sich mit den Entscheidungen ihrer Eltern zufrieden geben müssen.“
Martin Johannsen liebte klare Gedankengänge und stringente Argumentationen. Seine Tochter würde das eines Tages zu schätzen wissen, auch wenn sie jetzt seine Hartnäckigkeit verfluchen sollte. Es war ihm wichtig, nicht in jeder Auseinandersetzung gleich nachzugeben.
„Du kannst ja versuchen, ihr das schonend beizubringen“, sagte seine Frau mit einem nicht zu überhörenden Unterton, der ihre heimliche Freude verriet, die sie bei der Vorstellung an das bevorstehende Gespräch hatte.
„Das besprechen wir in Ruhe am Wochenende, Julia sollte sich unter der Woche ohnehin mehr auf die Schule konzentrieren.“
Er versuchte, das Thema so schnell wie möglich zu beenden. Seine Frau seufzte.
„Was war denn heute wichtiges bei der Arbeit?“
Er zögerte einen Moment, weil er sich noch keine Gedanken gemacht hatte, in welchem Maße er seine Frau ins Vertrauen ziehen wollte. Er hatte keine Geheimnisse vor ihr, aber je weniger detailliert er mit ihr über die NSA-Sache sprach, desto besser würde er auch in dieser Sache Arbeit und Privates trennen können. Mit dieser Taktik hatte er die letzten 25 Dienstjahre gut überstanden. Seine Frau wusste meist nur grob, woran er arbeitete und musste keine Angst vor Alpträumen oder hinterlistigen Attacken haben, wenn er mal wieder einer Schlepperbande oder sonstigen Schwerkriminellen auf der Spur war. Seit er in der Abteilung für politische Kriminalität war, hatte das Gefahrenpotential seiner Arbeit abgenommen, doch es war ihm lieber, wenn seine Familie so gut wie möglich von den unschönen Geschichten fern gehalten wurde, die er tagtäglich auf dem Schreibtisch hatte.
„Schon gut, brauchst es nicht zu erzählen.“
Seine Frau nahm den Teller aus der Mikrowelle und setzte sich mit ihm an den kleinen Küchentisch.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, beschwichtigte er. „Wir haben diese NSA-Daten bekommen, und ich soll mich da reinarbeiten.“
„Und, wer hat Kennedy erschossen?“
Er blickte seine Frau verwirrt an. Sie lachte und nahm sich einen Apfel aus der Obstschale, die in Griffweite auf der Küchenablage stand.
„Ich dachte, die wollten euch kompletten Einblick geben?“
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