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Zutiefst erschüttert liess sich Lavendula auf ihrem Ast nieder. Was sie da gerade entdeckt hatte, liess sie immer wieder aufs Neue erschaudern, bisher ungekannte Furcht hatte von ihr Besitz genommen. Sie musste den Serin finden. Doch zunächst brauchte sie eine Stärkung. Ein, zwei Mäuse mussten her, damit sie genug Energie dafür hätte, den Rest der Nacht nach dem Serin zu suchen. So schwang sie sich erneut in die Lüfte und liess sich lautlos in Richtung Waldboden gleiten, majestätisch und erhaben wie immer, trotz allem. In der Nähe der untersten Äste liess sie sich nieder, spitzte die Ohren und schärfte den Blick. Vielleicht hatte sie Glück und eine der Mäuse verirrte sich in den mittleren Teil des Waldes, dann müsste sie nicht so weit fliegen um zu jagen und hätte mehr Zeit für die Suche. Höchst achtsam spähte sie nach links und rechts… da! Da lag doch was unter dem Feuerbeerbusch! Heute würde sie sich sogar mit einer toten Maus abfinden, wenn ihr das die nötige Zeit ersparte, um den Serin zu suchen. Geräuschlos schwebte sie einen Ast weiter und noch einen. Da lag tatsächlich etwas im Moos. Nach einer Maus sah es allerdings nicht aus. Zudem beschlich sie auf einmal ein nicht einzuordnendes Gefühl. Noch ein wenig näher tastete sie sich heran, immer noch ohne den geringsten Laut. Das Gefühl wurde stärker. Was da lag, sah blau aus. Schimmernd blau… wie Federn. Ein Vogel? Ginge auch, zur Not. Von dem toten Vogel kam ein merkwürdiger Laut. Ein Schnarchen? Ein schlafender Vogel vielleicht? Jetzt war Lavendula etwas verwirrt. Schliefen Vögel nicht normalerweise in ihren Nestern? Nun – man lernte nie aus… scheinbar konnte selbst sie noch dazulernen! Die mächtige Eule landete auf dem Waldboden. Und da durchzuckte es sie wie einer der Blitze, die sie vorhin in der Krone des Lebensbaums hatte beobachten können: Da lag ein Winzling! Ein blauhaariger, schimmernder kleiner Kerl mit rot verschmiertem Mund lag selig zwischen leeren Schalen von Feuerbeeren auf dem Moos und schlief tief und fest und schnarchte lauthals. Der Serin. Lavendula erzitterte. Sie hatte den Serin gefunden. Behutsam schob sie den Kleinen in ihre Klauen, erhob sich mit einem Flügelschlag und nahm den winzigen Serin mit in ihre Höhle, meterhoch über dem Waldboden, wo sie ihn liebevoll in ihr Nest bettete. Dann schwang sie sich erneut in die Lüfte. Sie hatte auf einmal einen Bärenhunger.
Das schrille Klingeln des Weckers riss Silas aus dem Tiefschlaf. Nach seiner Fressparty vor dem Kühlschrank gestern gegen Mitternacht (bei der er fast den ganzen Rest vom Chili con Carne und als Nachtisch einen riesen Eisbecher verdrückt hatte), war er mit zu vollem Bauch erschöpft ins Bett gefallen und nahezu auf der Stelle eingeschlafen. Wilde Träume hatten ihn geplagt, in denen ein Ladewagen gefüllt mit DarkChickens, Dad mit Reisszähnen und Livia, welche über ihn gelacht hatte, eine Rolle gespielt hatten. Sein Schlafanzug war ganz nassgeschwitzt und er fühlte sich keineswegs wach genug, um aufzustehen. Stöhnend drehte er sich zur Wand und schloss die Augen. Kurz darauf klopfte es energisch an die Tür.
„Aufstehen, Sohnemann, das Frühstück steht auf dem Tisch, ich muss dann mal lohoos!“, tönte Dad, kam schwungvoll ins Zimmer, zog ihm die Decke weg und riss die Fensterläden auf. „Na los, du Schlafmütze! Das Bad ist frei!“ Und mit diesen Worten machte er kehrt und trampelte mit seiner Aktenmappe die Holztreppe runter. Wenig später hörte Silas das Geräusch der Haustüre, welche ins Schloss fiel. Kalte Morgenluft strömte durch das geöffnete Fenster ins Zimmer und liess ihn frösteln. Er zog sich die Decke wieder hoch bis über die Ohren und das Kissen über den Kopf.
„Silas! Es ist Viertel nach Sieben! Wie willst du denn noch frühstücken, wenn du in fünfzehn Minuten auf dem Weg sein musst… na los …. SILAS SAM WINTER!!!!“ Das Geschreie von Mom liess ans Wiedereinschlafen nicht mehr denken. Im Zeitlupentempo erhob er sich, sollte sie ja nicht meinen, er hätte ihnen verziehen. Extra langsam schlüpfte er in die alte Jeans, zog sich sein blaues T-Shirt über den Kopf und zog sich die Ringelsocken über. Er tappte ins Bad, wo er sich zwei Tropfen Wasser ins Gesicht spritzte und wie immer vergeblich versuchte, seine steil nach oben stehenden Fransen zu bändigen. Dann schlurfte er seelenruhig die Treppe runter, wo ihn seine Mom bereits erwartete. Ungeduldig drückte sie ihm seinen Rucksack, die Sporttasche und sein Pausenbrot in die Hand.
„Jetzt hast du keine Zeit mehr fürs Frühstück! Du weißt doch, dass das…“
„…das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages ist, jaja, blabla…“, murmelte Silas und schlüpfte in Jacke und Sneakers.
„Deshalb hab ich dir einen extra Cerealienriegel eingepackt, hörst du? Den isst du auf dem Weg, mit leerem Magen kannst du nicht…“, rief ihm Mom noch nach und blickte besorgt. Silas seufzte. Sie meinte es nur gut. Dennoch… er würde hart bleiben. Die könnten lange darauf warten, dass er ihnen verzieh, schliesslich hatten sie ihm den wichtigsten Abend seit Monaten verdorben. Er griff nach dem Riegel (Hafer-Nuss, bäh!) und verschlang ihn mit grossen Bissen, denn sein Magen knurrte tatsächlich schon wieder. Und gleich hatten sie Sport, daher… Im Laufschritt begab er sich, die Reste des Kornriegels herunterschluckend, in Richtung Schulhaus.
In der Umkleide war er alleine, es schien schon geläutet zu haben und er musste sich sputen, um keinen Eintrag zu kriegen. Kurz vor dem zweiten Klingeln zog er sich das T-Shirt über den Kopf und schlüpfte dabei unauffällig als Letzter in die Halle. Kevin und Jan sah er nirgends. Doch bereits pfiff Frau Simons in ihre Trillerpfeife und die Klasse setzte sich an den Rand der Turnhalle.
„Guten Morgen allerseits!“, begrüsste sie und schaute auf ihr Klemmbrett. Ihre blonden Haare trug sie wie immer zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden und in den halblangen Sporthosen kamen ihre trainierten Waden gut zur Geltung. Frau Simons war eine der wenigen Lehrer, die wirklich in Ordnung war. Sie scheuchte sie nicht nur herum und befahl unmögliche Dinge (wie das der Speich letztes Jahr getan hatte), nein, sie verlangte nichts von ihnen, was sie nicht selbst tadellos beherrschte. Nur war das einfach so ziemlich alles. Silas kannte niemanden, der so sportlich war wie Frau Simons.
„Aspen Lea, Beeler Ryan, Bossard Jan… Bossard Jan?”, wiederholte sie, nachdem sich niemand meldete. Dann vermerkte sie irgendwas auf ihrer Liste und fuhr mit ihrem Appell fort. „Kempton Lukas, Miller Sarah… Philipps Jonas?“ Suchend sah sich Frau Simons um. Bei Winter Silas hob er kurz die Hand. „…und Zimmermann Kevin. Kevin? Weiss jemand, wo Jonas, Kevin und Jan stecken?“, fragte Frau Simons schliesslich und blickte auf. „Silas, weißt du vielleicht…?“ Allgemeines Kopfschütteln. Sie seufzte, klemmte die Liste zurück aufs Brett und schnappte sich ihre Pfeife. „Na los, ihr wärmt ein und ich geh kurz mal telefonieren, um zu sehen, was mit den dreien los ist.“ Ein schriller Pfiff und sie verliess den Raum, während sich ein Grüppchen nach dem andern träge in Bewegung setzte. Silas konnte sich nicht so recht aufs Sitzball konzentrieren. Wo waren bloss seine drei Freunde?
Während der Turnstunde erfuhr er nichts mehr darüber. Frau Simons kehrte zwar zurück, doch nachdem sie bereits den Anfang der Stunde verpasst hatte, war sie jetzt umso intensiver bemüht darum, alle so richtig ins Schwitzen zu bringen und ja keine unnötige Pausen einzulegen. Silas kam ganz schön ins Schnaufen und war letztendlich doch ungemein froh über den Riegel von Mom. Als er Frau Simons am Ende nachdem er wieder zu Atem gekommen war, nach Jan, Jonas und Kevin fragen wollte, klingelte ihr Handy und sie eilte nach einem kurzen Blick darauf mit einer entschuldigen Geste aus der Halle.
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