Auch Kevins Mom hatte wohl geweint, er sah auf ihren Wangen weisse Striche, dort wo die Schminke verwischt war. Dass Kevins Vater nicht hier war, lag wohl an dieser Fernseh-Wetterfrau mit den hohen Schuhen, mit der Silas ihn in der Stadt gesehen hatte.
Und Jans Mutter schluchzte immer noch leise vor sich hin, ihr einst weisses Taschentuch umklammert, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Tim, Jonas‘ Vater zog hektisch an seiner Zigarette. Silas wusste, dass Jans Eltern niemals Zigaretten in ihrer Wohnung duldeten. Heute sagte niemand etwas zum unangenehmen Rauch im Raum, welcher Silas im Hals kratzte. Auf der Serviette vor Tim auf dem Tisch zählte Silas drei weitere kurze Stummel und etwas Asche. Frank Bossard schlug immer wieder mit der Faust auf die Sessellehne und strich sich mit der anderen Hand fahrig durch die wenigen verbleibenden Haare auf seinem Kopf, als ob er das Problem so lösen könnte. Lisa hielt seine andere Hand umklammert, Silas sah es daran, dass sich ihre roten langen Nägel in Franks Handrücken gruben. Er kniff seine Augen zusammen. Jetzt sah es aus, als hätte Frank auf seiner Hand fünf tiefe, blutige Wunden. Aus der Ecke erklang ungeduldiges Seufzen, dann hörte man die Bässe, die noch etwas lauter als vorher aus Jasons Ohrstöpseln drangen. Silas wagte einen Blick in seine Richtung und sah, wie Jans Bruder mit finsterem Gesicht auf seinem Handy rumtippte und gleichzeitig mit den Füssen im Takt zu seiner Musik auf und ab wippte. In seiner rechten Socke hatte er ein riesiges Loch und seine grosse Zehe schaute vorne raus.
Selena Zimmermann entwischte ein leises Schluchzen. Silas schob sich auf der Couch ganz nach hinten zur weichen Lehne, so dass er von Mom und Dad, welche links und rechts neben ihm sassen, nahezu verdeckt wurde. Er schloss die Augen, zog die Knie an die Brust und legte sein Kinn darauf, flankiert von seinen Eltern und im Rücken von watteweichen Kissen. Er machte sich ganz klein und verkroch sich, wie in einer Höhle. Er wünschte sich, er wäre unsichtbar.
„Die Lage ist mehr als ernst, Freunde.“ Frank strich mit seinem Daumen abwesend über die blutroten Fingernägel seiner Frau, die sich in seine Hand bohrten. „Unsere Söhne sind in Lebensgefahr und es gibt zum jetzigen Zeitpunkt nichts, was wir dagegen tun könnten. Nicht das Geringste.“
Rachel gab ein ersticktes Geräusch von sich woraufhin ihr Vater sie an seine Schulter zog.
„So versuchen wir, in dieser schwierigen Zeit füreinander da zu sein und da zu helfen, wo wir können… um diesen schrecklichen Augenblick des Wartens irgendwie zu überstehen. Wir müssen stark sein.“
Dad räusperte sich und meldete sich dann stockend ebenfalls zu Wort. „Ich… wir – ich meine, Lisbeth und ich, wir… wir…“, stammelte er und blickte dann verzweifelt zu Mom. Diese holte tief Luft.
„Es tut uns leid, von ganzem Herzen leid, was geschehen ist… und dass wir als einzige hier sitzen mit unserem gesunden Sohn an der Seite.“ Sie atmete jetzt ganz schnell und ihre Stimme klang zittrig. Dad schob den Arm um Silas und drückte den Knäuel aus Knien, Kinn und Haaren mit all seiner Dad-Kraft an sich. Silas bekam kaum mehr Luft zwischen all den Kissen und Dad. „Wir sind unendlich dankbar…versteht uns nicht falsch…“, und auch ihm versagte die Stimme.
Frank schüttelte nur stumm den Kopf, ging zu Dad und drückte ihm die Schulter. „Alles in Ordnung, Harald. Alles gut. Macht euch keine Gedanken.“ Und er fuhr Silas durch seinen hellblonden Haarschopf.
***
Später an diesem Nachmittag stand Silas an der Hand von Mom und dicht zwischen seinen Eltern in der Intensivstation des Big City Hospitals . Umgeben von fremden Krankenhausgerüchen, blinkenden Lämpchen und monoton piepsenden Geräten starrte er durch eine dicke Glasscheibe in einen grossen Raum ohne Fenster. Sein Gesicht spiegelte sich im Glas und er nahm ungewöhnlich bleiche Haut und riesige, honigfarbene Augen wahr. Seine flachsblonden Haare hoben sich kaum von der Haut ab, so blass war er.
Ein Bett stand neben dem nächsten. Sie sahen nicht bequem aus, die Betten, mehr wie Bahren, auf Rollen und schmal. Schläuche führten von seltsamen Ständern, die überall rumstanden zu den Betten, Monitore zeigten farbige Linien und Kurven. In den Betten lagen Gestalten, reglos und mit geschlossenen Augen. Silas fand, sie sahen aus wie Tote, die blasse Haut schimmerte im fahlen Krankenhauslicht bläulich. Er konnte nicht sehen, ob sie atmeten, keine der dünnen Krankenhausdecken hoben und senkten sich, alles schien unbeweglich und tot. Silas war es übel. Direkt hinter der dicken Scheibe lagen seine Freunde. Er konnte Jan, Kevin und Jonas erkennen, kleine, bleiche Geschöpfe, leblos zwischen dem steifen Stoff der gestärkten Spitalkissen. Ihre Lippen schimmerten bläulich und an den Schläfen meinte er feine blaue Adern zu erkennen, als ob ihre Haut durchsichtig wäre. Alle sahen furchtbar dünn aus und es schien Wochen her zu sein, seit sie Geheimsitzungen im Baumhaus abgehalten oder Seite an Seite in wilden Schlachten in King of Dragons gekämpft hatten.

Daneben lagen auch die anderen, Cédric und Svenja auf der einen Seite, Marc, Lars und Livia auf der anderen. Silas löste seine Hand aus der von Mom und trat dicht an die Scheibe. Er presste seine Stirn ans kühle Glas. Die Scheibe beschlug sich von seinem Atem. Silas zeichnete mit dem Zeigefinger die Konturen von Livias Bett nach, über ihren schlanken Hals bis runter über die Bettdecke ans Bettende. Dann zog Dad ihn weg und stumm machte sich die kleine Familie auf den Heimweg, langsam und tief erschüttert.
Silas blickte durchs Autofenster auf die vom Regen nasse Strasse. Das letzte Licht der Dämmerung spiegelte sich nahezu unsichtbar in den grossen Pfützen und wechselte sich ab mit dem kühlen Schein der Strassenlaternen. Jedes Mal, wenn Dad mit einem Rad eine der Pfützen erwischte, spritzte zischend eine Wasserfontäne bis hoch an die Scheibe und hinterliess eine Million kleiner Wassertröpfchen, die durch den Fahrtwind waagrechte Linien ans Fensterglas zeichneten, um dann irgendwo zu verschwinden, wohin Silas ihnen nicht mit den Augen folgen konnte. Eine Träne rollte über seine Wange. Die nasse, kalte Welt verschwamm vor seinen Augen. Silas fühlte sich entsetzlich mutlos. Wo waren sie bloss, seine Freunde? Wie sah es wohl aus, in dieser kalten Welt des Komas? Er stellte es sich schrecklich vor, so alleine im Nichts und in der Dunkelheit.
„…ChickenMcKing auf die Forderung der WHO, den verdächtigten Hamburger ‚DarkChicken‘ unverzüglich aus dem Verkehr zu ziehen nicht reagiert. Nachdem immer mehr Krankheitsfälle auch weltweit dem, wie inzwischen untersucht wurde, im Pouletfleisch des ‚DarkChicken‘ gefundenen Virus, zum Opfer fielen, beträgt die momentane Anzahl der Komapatienten bereits 236 und dies nur in unserer Stadt. Gerichtlich wird nun gegen den Fastfoodkonzern vorgegangen, bisher ohne Erfolg. Die als Kopf der Geschäfts- und Konzernsleitung aufgeführten Personen entpuppten sich ausnahmslos als sogenannte Phantome, sowohl im Netz auftauchende Fotos, wie auch die dazugehörigen Namen sind erfunden und bisher konnte keine existierende Ansprechperson ausfindig gemacht werden. Der Fall scheint immer mehr zu einem aussichtslosen Kampf zu werden, doch wir…“
Silas presste sich die Fäuste auf die Ohren, um die hoffnungslose Stimme des Radiosprechers nicht mehr zu hören.
Ja, wo waren sie, Silas‘ Freunde?
Verlassen wir die grossen, lärmigen Menschenstädte mit den vielen Autos und den stinkigen Abgasen, die kleinen Dörfer, die grossen blauen Berge, die riesigen Wiesen, die Nebelhügel und das grüne Moor… treten wir durch die Pforten vom Ende der Welt und lassen wir den Erdboden hinter uns. Schweben wir hoch ins Nirgendwo, lange, lange durch die Dunkelheit… bis wir an den rätselhaften Ort kommen, den magischen kleinen Planeten, schimmernd und funkelnd, von sanftem Licht umgeben, inmitten des Universums.
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