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Silas grübelte. Die ganze Sache liess ihm einfach keine Ruhe. Wieder einmal auf seinem Bett liegend und an die Holzdecke starrend, fragte er sich wieder und wieder, wo seine Freunde waren und was das alles zu bedeuten hatte. Er kniff die Augen zusammen. Hase. Drehte den Kopf nach links. Schildkröte. Hase, Schildkröte, Hase, Schildkröte, Hase…. Hier konnte er am besten nachdenken. Er konnte einfach nicht glauben, dass es eine harmlose Erklärung dafür gab, dass sie alle nicht aufgetaucht waren heute Morgen in der Schule. Er seufzte. Griff nach seinem Buch. Schlug es auf. Und legte es wieder weg. Entschied sich dann, King of Dragons einzulegen und zu versuchen, endlich den nächsten Level zu knacken. Was die anderen konnten, konnte er schon lange. Vielleicht stibitzte er sich später eine Packung Chips aus der Küche. Oder er fragte Mom. Heute würde sie ihm dies wahrscheinlich sogar erlauben. Silas schaltete den PC ein und loggte sich ein. Wie immer erschien auf der Startseite das Fenster mit den Tagesnews. Lebensmittelskandal stand da. Die Worte ChickenMcKing und DarkChicken stachen Silas ins Auge und zwangen ihn, die Schlagzeile genauer unter die Lupe zu nehmen. Langsam scrollte er sich durch den Text.
LEBENSMITTELSKANDAL SCHOCKT DIE WELT – CHICKENMcKING AM PRANGER
Wie gerade bekannt gegeben wurde, muss der vermutete Zusammengang des aktuellen Lebensmittelskandals mit der Fastfoodkette ‚ChickenMcKing‘ nun bestätigt werden. Traurige Gewissheit ist, dass sämtliche betroffenen Fälle im Vorfeld in einer der stadtweit verbreiteten Filialen konsumiert haben und kurz darauf die ersten Symptome eingetreten waren. Dies wurde von Angehörigen bezeugt. Auffallend ist zudem die Übereinstimmung im Menuplan der Betroffenen: Scheinbar hat jedes der inzwischen sechzehn Opfer unter anderem den neu auf dem Markt erschienenen sogenannten ‚DarkChicken‘ bestellt. Nur ein sonderbarer Zufall oder steckt da mehr dahinter?
Was zunächst wie eine harmlose Grippe beginnt, endet dramatisch: Nach der Verlegung der Betroffenen in die Intensivstation und danach folgendem komatösem Zustand, ist das Befinden sämtlicher Opfer äusserst kritisch und ein tragisches Ende kann zum jetzigen Zeitpunkt weder ausgeschlossen noch bestätigt werden. Unter den Leidtragenden sind unter anderem fünf Jugendliche und acht Kinder.
Atemnot, starker Durchfall, Erbrechen und ein stechender, migräneartiger Kopfschmerz sind die ersten Alarmzeichen. Wenn Sie kürzlich einen ‚DarkChicken‘ verzehrt haben und unter einem oder mehreren der oben genannten Symptomen leiden sollten, suchen Sie bitte unverzüglich einen Arzt auf! Über die weitere Entwicklung halten wir Sie auf dem Laufenden.
Silas schluckte leer. Das tönte ja doch viel ernster als zunächst angenommen! Vielleicht war es doch besser gewesen, gestern nicht dort zu essen, zumal er doch noch mit dem Gedanken gespielt hatte, diesen verlockenden DarkChicken auszuprobieren. Koma… das klang gar nicht gut. Was das wortwörtlich war, wusste er nicht so genau, doch er wusste, dass man daran sterben konnte. Hatte ja auch so im Artikel gestanden. Und Lars‘ Oma war auch im Koma gewesen bevor sie gestorben war. Plötzlich durchfuhr es ihn siedend heiss. Schnell scrollte er nochmals nach oben. Acht Kinder stand da. Acht! Hastig zählte er an den Fingern ab… Jonas, Kevin, Jan, Cédric, Lars, Marc… und Svenja und Livia. Das machte… genau acht! Und sie hatten alle vom DarkChicken gesprochen, als sie gestern losgegangen waren! Himmel, könnte es wirklich sein….? Oder war das alles nur ein dummer Zufall?
Jetzt war es traurige Gewissheit. Nachdem Silas aufgeregt in die Küche gestürmt war und seiner Mom von dem schrecklichen Verdacht erzählt hatte, hatte diese, nachdem ihr schon ein beruhigendes „Aber…“ auf den Lippen gelegen hatte, auf einmal gestutzt und ihn nachdenklich angeschaut.
„So abwegig ist das gar nicht, Silas! Obwohl… manchmal hinter solchen Geschichten nicht viel Wahres steckt…“, hatte sie versucht, das Ganze dann doch etwas abzumildern. Wahrscheinlich hatte sie Silas‘ wilden Blick und die weit aufgerissenen Augen ihres Sohnes bemerkt.
„Dennoch…“, hatte sie dann gemurmelt und etwas besorgter gewirkt als es Silas lieb war. Und dann hatte sie auf einmal zum Hörer gegriffen und erneut die Nummer der Schule gewählt. Silas hatte gebannt neben ihr gestanden und seine Daumen verzweifelt umklammert, so dass seine Knöchel ganz weiss hervorgetreten waren. Er hatte gespannt gelauscht, wie Mom sich durchgefragt und sich, wohl nach mehreren ausweichenden Antworten, ziemlich energisch erkundigt hatte, was mit den Klassenkameraden ihres Sohnes los sei. Schliesslich mache sie sich Sorgen. Und da Silas heute auch so merkwürdige Kopfschmerzen gehabt habe… Dies musste schlussendlich gewirkt haben. Jedenfalls hatte am anderen Ende kurze Stille geherrscht und dann hatte Silas leises Papierrascheln gehört. Und schliesslich wieder die Stimme der Sekretärin, die Mom nun ziemlich detailliert Auskunft zu geben schien. Jedenfalls hatte sie mehrmals genickt und hatte Dinge gemurmelt wie „Aha“ oder „Um Himmels Willen“ oder „Mhm“. Dann hatte sie aufgelegt und sich langsam zu Silas umgedreht.
„Setzen wir uns ins Wohnzimmer“, hatte sie leise gesagt und ihn dann bei der Hand genommen. Normalerweise hätte Silas ihr diese sofort entzogen, heute nicht.
Mom hatte ihm erzählt, dass all seine Freunde und auch Svenja und Livia heute Morgen krank gemeldet worden waren. Alle mit derselben Begründung: Kopfschmerzen, Bauchweh und Übelkeit. Die Schule hatte Mom auch berichtet, dass sie soeben die Meldung von Lars‘ und Cédric’s Eltern gekriegt hätten: Beide waren vor einigen Stunden ins Krankenhaus eingeliefert worden. Von den restlichen hätten sie nichts mehr gehört seit dem frühen Morgen, wollten aber später nachfragen. Und dann hatte auf Silas‘ verzweifeltes Bitten hin Mom selbst die Eltern von Kevin und Jan angerufen. Nur um anschliessend tonlos und mit leerem Blick zu Silas zu murmeln:
„Sie auch. Sie beide auch, Silas! Himmel… die armen Eltern…“ Dann hatte sie sich die Hand auf die Lippen gepresst und mit der anderen Silas fest an sich gedrückt.
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Später sassen sie alle im Wohnzimmer von Lisa und Frank Bossard, den Eltern von Jan. Alle, das hiess Silas mit seinen Eltern, Selena Zimmermann, die Mutter von Kevin und Verena und Tim Philipps mit Rachel, der älteren Schwester von Jonas. Irgendwo in der hinteren Wohnzimmerecke drückte sich Jason, Jans Bruder herum. Mit den I-Pod-Stöpseln in den Ohren und nicht deutbarem Gesichtsausdruck versuchte er mit allen Mitteln den Eindruck zu vermitteln, dass ihn der ganze Zirkus in seinem Haus nicht im Geringsten interessierte. Ja, dass er sogar ziemlich genervt davon war, sein Fernsehrevier lauter Erwachsenen überlassen zu müssen, obwohl doch gerade die Simpsons liefen. Er starrte immer wieder gierig zum Wohnzimmertisch hinüber, wo Tims Zigarettenschachtel lag. Silas wusste, das Jason heimlich rauchte, Jan hatte es ihm erzählt.
Jason hatte Silas keines Blickes gewürdigt, fast so als wäre er Luft. Rachel streifte er ab und zu mit einem kurzen Blick und versuchte wohl, sie zu beeindrucken, indem er sich besonders cool gab. Rachel ignorierte ihn vollends und die geröteten Augen hinter ihrem blonden Pony verrieten, dass zumindest sie genauso durcheinander war wie Silas. Jonas‘ ältere Schwester war schwer in Ordnung, fand Silas. Obwohl sie irgendwie schon erwachsen sein musste (sie fuhr bereits Auto), hatte sie die vier Jungs schon mehrere Male gerettet, wenn sie mal wieder was ausgefressen hatten und war mitgekommen, um den wütenden Nachbarn zu beruhigen oder den Geschäftsleiter vom Discounter um die Ecke davon abzubringen, wegen der „ausgeliehenen“ Kaugummis eine Anzeige bei der Polizei zu machen. Rachels dunkelblonden Haaren und ihrem gewinnenden Lächeln sowie den strahlend weissen Zähnen war es wohl zu verdanken, dass die Jungs noch nie in ernsthafte Schwierigkeiten geraten waren. Ausserdem konnte sie echt gut mit Männern reden, diese überschlugen sich dann immer vor lauter Freundlichkeit und taten jedes Mal so, als ob alles nur ein riesengrosses Missverständnis gewesen wäre. Obwohl sie kurz zuvor den „verdammten Bengeln“ noch „den Hals umdrehen“ wollten. Oder Ähnliches. Rachel hatte einfach immer alles im Griff. Und deshalb erschreckte es Silas jetzt auch umso mehr, sie so durch den Wind zu sehen. Er schluckte, um seinen Kloss im Hals loszuwerden. Vorsichtig sah er sich im Raum um.
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