Nur am Wochenende, wenn in den meisten Häusern der Nachbarschaft das Licht bereits erloschen war, zog es sie noch regelmäßig unter Leute. Dann begab sie sich in zwielichtige Eckkneipen, in denen keiner Fragen stellte.
Mit einem schwarzen Kaffee in der Hand, zwei abgepackten Knäckebrotscheiben mit Frischkäsefüllung und einem eingeschweißten Schokocroissant, begab Anne sich zum Sofa. Von dort aus konnte sie beobachten, wie Maggie auf der Schaukel saß. Sie trug eine kurze Jeans, keine Schuhe, dafür aber einen Sonnenhut. Der glitzernde Bambi-Aufdruck ihres rosafarbenen T-Shirts, befand sich fälschlicherweise auf dem Rücken. Eines der wenigen Kleidungsstücke, das sie selbst für ihre Tochter angeschafft hatte.
Nachdem das Kennenlernen, spätere Zusammenziehen und schließlich die Heirat mit ihrem Mann dazu geführt hatten, dass Annes Leben in geordneten Bahnen verlaufen war, hatte die Geburt von Maggie erstmals wieder bewirkt, dass ihre heile Welt ins Wanken geraten war.
Anne war aus den einfachsten Verhältnissen gekommen. Sowohl ihre Mutter, als auch ihr Vater, waren nie einer regelmäßigen Beschäftigung nachgegangen, hatten immer einfach nur in den Tag hineingelebt. Übermäßiger Alkoholkonsum war an der Tagesordnung gewesen. Anne hatte sich daran gewöhnen müssen, dass ihre Mutter regelmäßig von ihrem Vater vor ihren Augen körperlich misshandelt worden war und wenige Male hatte es auch sie aus heiterem Himmel getroffen. Erst ihr späterer Mann hatte sie aus der Hölle befreit und sie schließlich zu dem gemacht, was man wohl allgemeinhin unter einer ehrbaren Frau versteht. Er hatte neben ihrer Schönheit schon immer etwas in ihr gesehen, was ihr selbst bis heute verborgen geblieben war. Das war wohl auch der Grund gewesen, warum sie stets Schwierigkeiten gehabt hatte darauf zu vertrauen, dass er sie wirklich liebte und warum sie immer mit der Angst gelebt hatte, er könne eines Tages seinen Irrtum feststellen und sie wieder verlassen. Nun hatte er sie tatsächlich unwiderruflich allein gelassen, hatte sie mit gerade einmal siebenundzwanzig Jahren zur Witwe gemacht.
Das einzige, was ihr von ihm geblieben war, war Maggie. Er hatte Kinder schon immer über alles geliebt, hatte sich schnell ein Kind von ihr gewünscht. Doch Anne hatte tief in ihrem Inneren die böse Ahnung gehabt, sie könne niemals eine gute Mutter sein. Außerdem hatte sie Angst davor gehabt, die Liebe ihres Mannes mit einem anderen Menschen teilen zu müssen. Nur hatte sie auch gewusst, dass er ohne ein eigenes Kind nie ganz glücklich geworden wäre. Und das war etwas, was sie unbedingt gewollt hatte, sie hatte ihn glücklich machen wollen, so wie er es an jedem neuen Tag geschafft hatte sie glücklich zu machen. Schließlich war er es, der ihr Leben überhaupt erst lebenswert gemacht hatte. Also hatte sie ihm diesen Herzenswunsch unmöglich langfristig abschlagen können.
Nachdem sie die ersten Jahre alleine miteinander verbracht hatten, wurde Maggie geboren. Leider hatte Anne schnell gemerkt, dass ihre Ängste nicht unbegründet gewesen waren. Während ihr Mann vom ersten Moment an, an dem er die kleine, verschrumpelte, über und über mit Käseschmiere versehene Maggie gesehen hatte, abgöttisch geliebt hatte, hatte sich zwischen ihr und ihrer Tochter einfach keine Bindung einstellen wollen. In den allerersten Tagen hatte sie sich noch getraut, ihre Empfindungen ansatzweise ihrem Mann gegenüber zu offenbaren, doch der war der festen Überzeugung gewesen, dass sich das schon von ganz alleine ergeben würde, denn schließlich sei es unmöglich gewesen, dieses herzige Wesen nicht zu lieben. Für sie hatte sich der Sachverhalt ganz genau andersherum dargestellt. Wie war es überhaupt möglich, dieses schreiende, einem den Schlaf raubende, rund um die Uhr fordernde Wesen zu lieben. Von da an hatte es einen kleinen Bruch gegeben. Obwohl er jedes noch so dunkle Detail aus ihrer Vergangenheit gekannt hatte, war es ihr ein Rätsel gewesen, wie sie ihm hätte eingestehen sollen, dass sie Maggie dafür gehasst hatte, dass sie sie um ihre tadellose Figur gebracht hatte, dass sie tiefen Ekel empfunden hatte, wenn sie Maggies volle Windel gewechselt hatte oder dass sie in Maggie einen hässlichen glatzköpfigen Wurm gesehen hatte und nicht wie andere Mütter in ihren Kindern, das schönste Baby auf der Welt. Doch mit der Zeit war es Anne immer besser gelungen, einen angemessenen, mütterlichen Umgang mit ihrer Tochter zu pflegen. Ihr Mann hatte nicht nur seine geliebte Maggie auf Händen getragen, sondern auch sie, mehr denn je. Er hatte ihr jeden Tag mit Worten und Taten für dieses kostbare Geschenk gedankt, das sie ihm gemacht hatte. Er war wirklich glücklich gewesen und so hatte sie es trotz ihres kleinen Geheimnisses auch sein können. Nur sehr geringfügig hatte dieser Umstand ihr Glück zu trüben vermocht.
Doch nun war alles anders. Während Maggies Existenz in der Vergangenheit zwar dazu geführt hatte, dass ihr Mann sie noch mehr geliebt hatte, hatte sie auch dazu geführt, dass Anne immer das Gefühl gehabt hatte, irgendetwas sei nicht in Ordnung mit ihr. Und am Ende hatte Maggie die Schuld an seinem Tod getragen. Wäre sie nicht gewesen, wäre er heute noch am Leben!
Anne schaute durch die Fensterfläche auf ihre Tochter, die mittlerweile im Sandkasten spielte. Maggie war ihr Ebenbild, doch sonst hatte sie nichts mit ihr gemeinsam. Gerade dadurch führte Maggie Anne schmerzlich ihre eigene Unfähigkeit vor Augen. Denn mit ihren vier Jahren hatte sie es bereits viel besser gelernt als sie selbst, sich den veränderten Bedingungen anzupassen. Maggie sorgte in jeglicher Hinsicht dafür, dass sie zu ihren Rechten kam. Sie zog sich alleine an und versorgte sich selbst mit Essen und Trinken. Fast schon unheimlich fand sie es, als Maggie sie um neue Zahnpasta gebeten hatte, was dafürsprach, dass sie sich weiterhin regelmäßig die Zähne putzte, allein, denn Anne schaffte es häufig nicht mal mehr ihre eigenen Zähne zu putzen, weil sie entweder zu betrunken war oder es ihr einfach egal war. Und als wäre das nicht schon ungewöhnlich genug, stellte sie fest, dass Maggie nach dem Aufstehen ihr Bett machte, so gut sie das eben konnte. Sie fühlte sich fast schon ein bisschen provoziert und vorgeführt von ihrer Tochter, denn sie verzichtete längst auf das leidige Prozedere.
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