Wie ein getretener Hund schlich Maggie um das Bett herum, darauf bedacht, keinen weiteren Lärm zu verursachen. Sie nahm das Stück Pizza samt Karton und verließ das Zimmer. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete sie erleichtert auf. Sie ging zurück in die Küche und stellte die Pappschachtel auf den Küchentisch. Ein drittes Mal nahm sie sich nun den Küchenstuhl zur Hilfe, um sich ein Trinkglas aus dem Schrank zu holen. Bevor sie sich an den Tisch setzte, füllte sie das Glas mit Leitungswasser.
Um 12.30 Uhr saß Maggie schließlich alleine am Küchentisch, um einen kleinen, kalten Rest Pizza vom Vortag aus einem Pappkarton zum Frühstück zu essen; dazu ein Glas mit Leitungswasser.
Anders als am Vortag, war noch kein einziges Blatt im Papierkorb gelandet. Stattdessen hatte Leni in mehreren Stunden bereits einen ganzen Stapel Skizzen angefertigt, mit denen sie obendrein auch noch rundherum zufrieden war. Ihr Blick wanderte auf die große Sammelmappe, die an ihren Schreibtisch gelehnt stand, in der sie ihre schönsten Werke aufbewahrte. Vielleicht hatte eines der auf dem Schreibtisch liegenden Blätter das Potential in diese Sammlung der Besten aufgenommen zu werden.
Darin befanden sich nun auch wieder die Bilder, die sie zwischenzeitlich aussortiert und für ihre Bewerbungsmappe zusammengestellt hatte, dank derer sie sich einen Platz an einer der renommiertesten Kunsthochschulen des Landes hatte sichern können. Noch immer konnte sie es nicht fassen, dass diese sie auch tatsächlich ausgewählt hatte und das gleich bei ihrem allerersten Versuch. Bei dem zweiten Teil des Auswahlverfahrens, der künstlerisch-gestalterischen Eignungsprüfung, die im Universitätsgebäude durchgeführt wurde, war sie mehreren Studenten begegnet, die sich über viele Jahre hatten bewerben müssen, ehe sie endlich die Chance erhalten hatten, ihr Studium zu beginnen. Wie viele es niemals geschafft hatten, wollte sie sich erst gar nicht ausmalen. Sicherheitshalber schielte sie zu ihrer Pinnwand hinüber. Die ersten Worte, die sie auf dem dort hängenden Brief lesen konnte, reichten aus, um erneut ein tiefes Gefühl des Glücks und der Dankbarkeit in ihr auszulösen: Wir freuen uns Ihnen mitteilen zu dürfen, dass… . Ein breites, zufriedenes Grinsen lag in Lenis Gesicht, mit dem man sie so nur selten sah. Im Oktober würde sie ihr Studium beginnen. Nur noch gute zwei Monate, die dank des Malens und ihres kleinen Jobs wie im Fluge vergehen würden.
Der kaum zurück liegenden Schulzeit weinte sie keine Träne nach. Sie war nie gerne zur Schule gegangen; hatte die Mitschüler nicht gemocht, was dann irgendwann dazu geführt hatte, dass auch die sie nicht sonderlich gemocht hatten, und das Gefühl der Abhängigkeit und des Ausgeliefertseins gegenüber den Lehrkräften, hatte sie gehasst. Schule war für sie lediglich ein notwendiges Mittel zum Zweck, denn dass sie etwas Künstlerisches hatte studieren wollen, war für sie schon immer klar gewesen, solange sie nur zurückdenken konnte.
Ganz anders als von der Schulzeit erhoffte sie sich von ihrem Kunststudium eine glückliche Zeit. Den größten Teil des Tages würde sie mit dem zubringen, was ihr am meisten Spaß im Leben machte; dem Malen. Außerdem erwartete sie schnell besser zu werden und jede Menge neue Techniken zu erlernen. Und nicht zuletzt freute sie sich auf das Studium der alten Künstler, unter denen es viele gab, die sie aus tiefstem Herzen verehrte. Ansonsten würde sie sich überraschen lassen, was auf sie zukäme.
Das ganze studentische Leben drumherum interessierte sie dagegen wenig bis gar nicht. Bereits das überdrehte Gerede ihrer Mitschüler in den letzten Schulwochen vor den Sommerferien war ihr unheimlich auf die Nerven gegangen. Man hätte den Eindruck gewinnen können, dass für viele von ihnen das Studienfach gänzlich nebensächlich gewesen wäre. Stattdessen hatten sich die zukünftigen Studenten gegenseitig übertrumpft, was sie alles für wilde Partys feiern würden und prophezeit, was für tolle neue Leute sie kennenlernen würden. Leni hegte die Vermutung, dass ihre Mitschüler hinter dem großspurigen Gebaren nur ihre Angst vor dem Neuen und der Furcht möglicherweise alleine dazustehen, verbergen wollten.
Sie hatte weder vor auf Partys zu gehen, noch legte sie Wert darauf neue Freundschaften zu schließen. Entsprechend hatte sie auch keine Angst vor dem Alleinsein. Ihr Einsiedlertum, wie ihr Vater es nicht ohne Vorwurf nannte, gefiel ihr ausgesprochen gut und sie sah auch keine Veranlassung, in der Zukunft irgendetwas daran zu ändern. Auch die Aussicht, zum ersten Mal in ihrem Leben komplett auf eigenen Beinen zu stehen, verunsicherte sie nicht. Wie man eine Waschmaschine fachgerecht bediente, hatte sie bereits mit zwölf Jahren gewusst. Kochen gehörte dagegen zwar nicht zu ihren Stärken, aber wozu gab es schließlich eine Mensa? Und die wiederum, befand sich nur wenige hundert Meter von ihrer künftigen Studentenbude entfernt.
Was die Unterbringung anging, hatte sie großes Glück gehabt. Sie hatte eines der wenigen, sehr begehrten Zimmer, in einem der Studentenwohnheime ergattern können und das zu einem unschlagbaren Preis. Für das ihr zur Verfügung stehende Geld hätte sie alternativ höchstens noch ein Zimmer in einer WG bekommen und dann hätte sie sich wieder mit anderen arrangieren müssen. Ihr Wohnheimzimmer hatte sogar ein eigenes Badezimmer direkt angeschlossen, das war zwar winzig und glich in seiner Vollplastikausführung eher einer Flugzeugtoilette, hatte sie bei der damaligen Besichtigung amüsiert festgestellt, aber dafür würde sie es mit niemandem teilen müssen. Dieser Luxus traf zwar auf die Küche, die neben ihr fünf weiteren Studenten zur Benutzung zur Verfügung stehen würde, nicht zu, doch schließlich war da ja noch die Mensa, so dass die Aufenthaltsdauer dort vermutlich überschaubar bleiben würde. Und sollte unter den künftigen Mitbenutzern jemand sein, der besonders redselig war und meinte, ihr bereits beim Frühstück seine Lebensgeschichte erzählen zu müssen, könnte sie notfalls auch auf ihr Zimmer ausweichen. Eigentlich konnte gar nichts schief gehen.
Obendrein, als Sahnehäubchen, würde auch endlich das ganze Schmierentheater für ihren Vater ein Ende haben oder zumindest auf ein Minimum reduziert werden. Fiktive Treffen mit nicht existenten Freunden, bei denen sie der Glaubwürdigkeit halber für mehrere Stunden das Haus verlassen hatte, würde es von da an jedenfalls nicht mehr geben. In Zukunft hoffte sie ihn am Telefon mit wenigen Informationen abspeisen und so die ganze Lügerei deutlich in Grenzen halten zu können. Zumal ihr ganzes Schauspiel nicht einmal dazu gereicht hatte, dass ihr Vater sie für einen völlig normalen, sozial integrierten Teenager hielt. Ständig machte er sich Sorgen, sie könne sich einsam und unglücklich fühlen.
Bei ihren ganzen Überlegungen zog sie erst gar nicht in Betracht, dass sie tatsächlich neue Kontakte würde knüpfen können und sie dann einfach nur bei der Wahrheit bleiben konnte.
Nach dem kleinen gedanklichen Exkurs in die Zukunft, richtete Leni ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihre Skizze. Sie schob ihre Unterlippe vor, um eine ihr ins Gesicht gefallene Strähne energisch wegzupusten und so für freie Sicht zu sorgen. Die linke Hand lag noch immer in unveränderter Position mit dem Handrücken auf der Schreibtischplatte, unmittelbar neben ihrem Blatt Papier. Die Vielzahl der auf der Hand verlaufenden Linien und Furchen faszinierte sie immer wieder aufs Neue. Es war für sie ohne Bedeutung, welche die Lebens-, Herz- oder Kopflinie ist. Und erst recht, welche Länge oder Beschaffenheit man welchen Charaktereigenschaften oder gar Zukunftsaussichten zusprach. Leni war es ausschließlich wichtig, eine möglichst detaillierte Abbildung der Wirklichkeit zu schaffen und vielleicht sogar ein bisschen mehr als das. Mit Blick auf ihr Papier stellte sie zufrieden fest, dass ihr dies bereits weitestgehend gelungen war und sie fast fertig war. Es fehlten lediglich noch ein paar Details und einige Schattierungen. Sie begann mit dem größten Schatten in der Handinnenfläche, den die leicht gekrümmten Finger warfen. Schließlich ging sie über zu den Details, wobei sie den kleinen dunklen Rand unter dem Nagel ihres Ringfingers beflissentlich übersah. Mit einem letzten prüfenden Blick verglich sie ihre Hand mit der Abbildung eben dieser. Als diese nach ihr zu greifen schien, legte sie den Bleistift getrost an die Seite. Sie mochte das Bild schon jetzt. Grundsätzlich gefiel ihr die monochrome Darstellung von Bleistiftskizzen.
Читать дальше