Deshalb brauchte sie im Augenblick auch keine Tabletten. Wieder ein paar mehr, die sie für den Tag aufsparen konnte, an dem sie von hier verschwinden würde. Proviant für die Reise.
„I was born one morning when the sun didn’t shine… I picked up my shovel and walked to the mine… I load sixteen tons… dadidadadi…”
Mit einem Lied auf den Lippen ging die Arbeit leichter von der Hand. Alice war bester Laune. Es war Sonntag. Die bleiche Frühlingssonne schickte ihre schräg fallenden Strahlen in die Schlacht gegen die auf dem letzten Knopfloch pfeifende Winterkälte. Alice stand am offenen Fenster des frisch geputzten Treppenhauses und atmete tief.
Eigentlich sah der Hausordnungsplan, der unten an der Kellertür hing auch noch vor, dass sie die Mülltonnen zur morgendlichen Leerung rausstellte und den Gehweg kehrte. In diesem spießerverseuchten Scheißkaff war die Hausordnung so etwas wie das Gesetz. Seit vierundzwanzig Jahren hatte niemand das je in Frage gestellt.
Heute aber würde Alice die Regeln leichten Herzens brechen. Sie würde dem Undenkbaren, dem Leviathan, das Tor ins Innere des Hauses öffnen. Die Konsequenzen einer solchen Tat würden dessen Fundament in den Grundfesten erschüttern. Es wird Nachahmer geben. Niemand wäre mehr sicher vor Ungehorsam und Rebellion. Und hinter den verriegelten Gutbürger-Wohnungstüren regierte künftig die blanke Angst.
Das Raffinierteste an dem Plan war: Bevor irgendjemand sich bei Alice beschweren konnte, würde sie gar nicht mehr da sein. Seit sie ihren endgültigen Entschluss gefasst hatte war alles leicht. Sie ging fort. Irgendwohin. Und sie wusste, sie ging nach Hause.
„Hallo Alice.“, sie erschrak ein wenig.
„Oh, hallo Gregor. Geht’s gut.“
„Alles bestens. Na dann, bis demnächst mal wieder.“
„Ja, bis demnächst.“
Liebe Alice,
verzeih’, dass ich so lange nichts von mir habe hören lassen! Der gestrige Tag war derart reich an unerwarteten Ereignissen, dass ich es versäumt habe dem Brief, den ich Dir am Vormittag schrieb am Abend einen weiteren folgen zu lassen. Ich möchte dich natürlich nicht mit den belanglosen kleinen Problemen langweilen, die meinen Alltag belasten. Nur soviel: Ich hatte ein ernstes Versorgungsproblem ein lebensnotwendiges Nahrungsmittel betreffend. Und später musste ich einem Freund in einer schweren Notlage seelischen Beistand leisten. Eigentlich einer Freundin. Aber es ist nicht das, was Du jetzt denkst. Sie saß hinter meiner Kommode. Die Zusammenhänge im Detail zu erklären würde den Rahmen dieses Briefes sprengen. Jedenfalls war der Tag vorüber bevor ich es auch nur bemerkt hatte.
Sei dennoch um nichts weniger versichert: Meine ganze Liebe gehört Dir allein.
Mit aufrichtiger Reue,
Gregor
Ps.: Da die ersten wärmenden Strahlen der neu erwachten Frühlingssonne mich, wie jeden vom Taumel der Liebe ergriffenen Narr, heute Morgen hinaus in die Natur riefen, habe ich die Gelegenheit genutzt Dich von jener Last zu befreien, die die Hausordnung und der danach festgelegte Wochenplan Dir auferlegt hatten. Ich habe die Mülltonnen für die morgige Leerung an die Straße gestellt und den Gehsteig vor dem Haus gefegt. Es hat mein Herz mit Freude erfüllt.
Vor den Lohn haben die Götter den Schweiß gesetzt. Der Tee musste also noch ein wenig warten. Zunächst einmal schob Gregor die Lieblingskommode herum bis sie in einem rechten Winkel zur Wand zum stehen kam. Dann bohrte er mit einem kleinen Handdrillbohrer ein Loch in die Wand. Direkt neben dem Eingang zum Mäusereich. Das Metallgewinde mit der bloßen Kraft seiner Hände in den massiven Stein zu treiben war mühsam. Aber schließlich gelang es ihm. Er hätte natürlich auch die elektrische Bohrmaschine nehmen können, aber das hätte die Maus nur unnötig verschreckt. Zum Entfernen des aus dem Loch heraus gerieselten Putzes und Zementstaubes benutzte er Handfeger und Schaufel. Auch ein Staubsauger würde nur störenden Lärm verursacht haben. Bei der Gelegenheit entfernte er auch die überall über die Fläche, auf der normalerweise die Kommode stand verteilten Mäuseköttel. Anschließend befestigte Gregor mit Hilfe eines Dübels in der gebohrten Öffnung und einer Schraube die kugelgelagerte Achse des Laufrades, das er in der Zoohandlung gekauft hatte an der Wand. Ein Stups mit dem Finger und das Rad drehte sich mit einem zufriedenen Summen auf der Stelle. Nager liebten diese Art von Fortbewegungsmittel.
Voller Empathie, und nicht ohne einen gewissen Stolz, begutachtete er sein Werk.
Zuletzt sammelte Gregor die überall verstreuten Briefe ein, fegte auch von diesen die Mäusescheiße herunter und schob die Kommode zurück an ihren Platz. Natürlich ließ er genügend Raum zur Wand, dass die Maus bequem in das Rad hineinklettern, und dieses sich frei drehen konnte.
Dann ging er in die Küche um ein Feuer im Waschbecken zu entfachen und darüber sein Teewasser zu kochen.
Das monotone Brummen eines Automotors ließ Gregor langsam aus seinem Halbschlafdämmer in die Wirklichkeit auftauchen. Zweifellos ein Möbelwagen. Oder hatte er den geträumt?
Irgendjemand Neues zog in das Haus ein.
Oder Jemand zog aus. Aber wer? Nicht Alice!
Er stürzte ans Fenster und zog die Gardinen beiseite. Seine Brille hatte er in der Eile auf dem Nachttisch neben seinem Bett, wo diese während der Stunden des Schlafes ihren festen Platz hatte, liegen lassen. Trotz seiner Kurzsichtigkeit konnte er den Möbelwagen klar erkennen. Von oben sah der recht klein aus. Und sehr schwarz. Eher eine Art Kombi mit Überlänge. Viel bekam man darin mit Sicherheit nicht unter. Wenn es, was aber völlig ausgeschlossen war, tatsächlich Alice sein sollte, die da heute auszog, reiste sie mit leichtem Gepäck. Ihm würde es das Herz brechen.
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