Seit heute früh um 5:30 Uhr ist er auf den Beinen und er wird bis 17:30 Uhr nur eine Pause machen. Gleich geht die Sonne unter, dann wird er seinen Karren abstellen, seinen Verdienst von etwa 3-5€ nehmen und nach Hause gehen. Er wird eventuell noch eine Kleinigkeit essen, sich auf seine Matratze legen und in einen diffusen Schlaf fallen. Bis morgen früh, wenn alles von vorne beginnt und seine schmerzenden Muskeln erneut seinen mit Hunderten von Kilogramm beladenen Karren durch die Straßen ziehen, immer in der Hoffnung, dass er heute genug verdient, um etwas zu essen zu haben, um das Dach über seinem Kopf noch einen Tag, noch einen Monat länger halten zu können und es eines Tages mal besser zu haben.
“Warum darf er nicht einfach Kind sein?”, schießt es mir durch den Kopf. Warum können Kinder nicht einfach Kinder sein, unbeschwert sich selbst und die Welt erkunden?
Und wer sagt eigentlich, dass wir im Westen abgeschnitten von uns selbst und unseren Emotionen sind? Kannst Du Dir vorstellen, was man tun muss, vergessen und ignorieren muss, um so leben zu können? Ich kann es mir nur im Ansatz vorstellen und es bricht mir das Herz. Meine Kehle schnürt sich zu. Ich vermag nicht zu erfassen, was du durch machst, kleiner Kossi.
Kossi ging die Straße runter. Den voll beladenen Karren im Schlepptau, meistert er gekonnt eine riesige Pfütze nach der anderen. Er konnte inzwischen gut einschätzen, welche mit Schlamm und Wasser gefüllten Löcher in der Straße zu bewältigen waren und um welche er besser einen großen Bogen fuhr. Dies’ war manchmal nötig, um die Ware, die er geladen hatte, nicht zu gefährden. Heute war ein guter Tag. Seine Schwester hatte letztes Wochenende geheiratet und er erfreute sich immer noch der Feier und Freude ob der neuen Familienmitglieder. Der leichte Regen, der sich angenehm kühlend über den Tag verteilt hatte und seine Haut immer wieder erfrischt hatte, war eine willkommene Abwechslung in Kossis Arbeitstag, der sonst von stechender Sonne und viel Schweiß geprägt war. Es war genau die richtige Mischung aus Sonne, dem grau, grellen Licht, das so typisch für diese Jahreszeit ist, und den sanften Regentropfen. Eine Brise Wind, die immer genau dann einsetze, wenn es Kossi gerade einmal wieder zu warm vor Anstrengung wurde, rundete das Paket ab und lies Kossi den heutigen Tag in guter Erinnerung behalten.
Kossi blickte die Straße hinunter. Noch etwa 50 Meter, dann hatte er es geschafft. Dann würde er Karren ein letztes Mal für heute abladen, seinen Lohn einstecken und endlich etwas essen gehen. Die Stunden seit seiner ersten Mahlzeit heute morgen waren viele, doch er war froh, heute zwei Mahlzeiten gehabt zu haben. Jeden Tag konnte er sich das nicht leisten. Er spürte, wie ein Schweißtropfen seine Stirn hinab, über seinen Nasenrücken lief und, unten angekommen, ihn frech an seiner Nasenspitze kitzelte. Er lachte und dachte sich “Wie einfach und wie schön das Leben sein konnte!”. Dankbarkeit und Frohmut erfüllten ihn. Was für ein Glück, dass er damals nach Lomé gekommen war, was für ein Glück, dass er diese Arbeit gefunden hatte und was für ein Segen, dass sein Chef genug verdiente, sich Kossis Dienste leisten zu können. “Mögen wir alle auch morgen gute Geschäfte machen”, dachte er sich und kehrte, immer noch lächelnd, in die betonierte Hofeinfahrt seines Auftraggebers ein. Heute war ein guter Tag!
Wünsche (k)einen Wunsch
Warum der Hahn um drei Uhr in der Früh so einen Radau machen muss, ist mir unerklärlich. Alle fünf Sekunden ertönt sein bekloppter Ruf. Irgendetwas stimmt doch mit seiner inneren Uhr nicht. Meine jedenfalls funktioniert super. Sie sagt: “Um fünf Uhr musst du raus, nicht um drei Uhr! Also dreh dich noch einmal um und ruh’ dich aus!”, “Würde ich ja gern”, erwidere ich meiner inneren Uhr, “geht aber nicht!”.
Ich bin nervös. Gar nicht so furchtbar tief in mir drin, weiß ich, dass der Hahn gar nicht das Problem ist. Er war sicher auch die vier vorigen Nächte, die ich hier verbracht habe, zur gleichen Uhrzeit wach und aktiv und es hat mich nicht gestört.
Ich frage mich, wie der Wald, in den wir gleich fahren, wohl aussehen wird. Wie werden die Menschen, die dort leben und wirken, wohl sein? “Das wird sicher die Erfahrung, die mir bisher gefehlt hat!”, denke ich mir und lächle gespannt.
Ich stelle mir weite Steppe vor, roter Sand bestimmt das Bild. Ein kleines Dorf mit runden Häusern aus Lehm erscheint vor meinen Augen. Die Dächer sind spitz und mit Stroh oder getrockneten Palmwedeln gedeckt, kleine, schwarze Kinder laufen lachend und spielend umher, die Älteren und Erwachsenen betrachten mich neugierig. Schon im Vorbeifahren mit Papas altem VW Golf, Baujahr 1991, laufen Kinder nebenher, rennen mit, um uns zu begrüßen und rufen mir unverständliche Willkommensgrüße zu. Vor dem Dorf, doch nicht in Sichtweite der hübschen, runden Häuser, sehe ich hochgewachsene Büsche. Rau, stachelig, wenig einladend geben sie in schmalen Pfaden nicht einsehbare Tiefen eines geheimen Waldes frei. Jener Wald ist der Wald in dem Mein Opa gelebt und gewirkt hat. Ein seit Jahrhunderten geheimes Versteck und Zentrum des spirituellen Führers des Ewe Volkes. Tiefes Buschland, das nur die Eingeweihten allein betreten können und dürfen. Unwegsames Gebiet, in dem man sich verliefe, oder einen Schlangenbiss riskierte, versuchte man, auf eigene Faust den heiligen Ort des Wassers, den Kern des Waldes von Be zu finden. Habe ich jenen einmal mit Hilfe der Nonna gefunden, erstreckt sich ein dunkelgrüner, satter, feuchter Urwald vor meinem Auge. Das Wasser kann ich förmlich riechen, die Bäume sind dicht und gesund, groß und stark. Jahrhunderte alte Gewächse ragen herrschaftlich und zugleich milde und sanft in die Höhe. Ich bin an einem zauberhaften Ort der Stille und Tiefe, der Wahrheit und der Weisheit, Jahrhunderte alten Wissens und nicht Wissens. Ein Ort, an dem sein langer Zeit Magisches geschieht und vor sich geht.
Der Mann, der den Platz meines Großvaters eingenommen hat, würdigt mich keines Blickes. Ich bin willkommen, doch ansehen muss er mich dafür nicht.
Ich spüre, dass das in Ordnung für mich ist. Die Frauen, die an diesem Ort leben und dienen, heißen Nonnas. Sie sind Auserwählte, hohe Priesterinnen, Eingeweihte und Gelehrte. Wer ihre Narbe ähnlich einer Sichel auf beiden Gesichtshälften, direkt neben dem Auge auf den Wangenknochen sieht, weiß gleich, mit dieser Frau legt man sich lieber nicht an. Diese Narbe, die mich inzwischen eher an einen Bogen mit Pfeil, oder eine gekreuzte Sichel erinnert, ist wirklich sehr eindringlich und gibt selbst mir das Gefühl, dass es ein Zeichen von unfassbarer Stärke sein könnte. Der Bogen ragt nicht selten bis fast ins Auge und ich frage mich, wie die Frauen jene Zeichen erhalten. Der Bogen scheint perfekt geschwungen, als sei er in einem Durchgezogen worden und ich frage mich, ob er gebrannt oder geschnitten wird, tippe aber darauf, dass eine Brandzeichnung anders aussähe und der Bogen dann bei jeder Nonna gleich wäre, was er nicht ist.
Der Wunsch
Zurück zu mir. In meinem Bett liegend, frage ich mich immer noch, was ich mir wünsche. Papa hat mir gestern Abend gesagt, ich solle mir bereits überlegen, was ich mir in der Zeremonie Wünsche, da ich das gefragt werden würde.
Ich möchte etwas sagen, das wahr ist und auch noch tief in mir drin in Wahrheit und Authentizität besteht. Ich habe Bedenken, dass sonst, alles, was ich mir wünschen könnte, nicht in Erfüllung geht, weil das Universum die Dissonanz in meinem Wunsch wahrnimmt. Ein Wunsch, den ich mir wünsche und in Wirklichkeit nicht mit jeder Faser meines Seins wünsche, der ist kein Wunsch und wird somit nicht in Erfüllung gehen.
Wünsche ich mir also eine bestimmte Sache und kann an den Wunsch ein wie immer geartetes Aber anfügen, so liebe und lebe ich jenen Wunsch nicht voll und ganz. Soll er dann sein? Wahrscheinlich ist die Antwort Nein. Was wünsche ich mir? Und wünsche ich mir, was ich mir wünsche um des Gewünschten Willen oder steckt hinter dem Wunsch ein anderer Wunsch, ein weiteres Begehr? Wo enden die Wünsche hinter den Wünschen? Gibt es eine Version meiner, die frei von Begehr ist?
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